Diskurs II

18. März 2012, 14.30 Uhr

Prolog im Rahmen des Tourismustages der Region Saarbrücken 2012

Mut zum Weniger, Fülle des Seins – Erkundungen über Nachhaltigkeit

Lesung, Gespräch, meditative Wanderung mit Ulrich Grober und Peter Michael Lupp

Ansprache von Ulrich Grober während der Veranstaltung in der Wintringer Kapelle

Nachklang zur Veranstaltung

Impressionen und Reflexionen von Ulrich Grober

Panorama Bliesgau

Es hatte etwas Befreiendes: Aus dem Tal der Saar, das hier durch Siedlungsstrukturen und Verkehrswege wie durch eine Zwangsjacke verengt wird, abzubiegen und kurz vor Kleinblittersdorf auf die Landstraße zu wechseln. Während die Straße sanft ansteigt, öffnet sich vor unseren Blicken eine überwältigend weite, ruhige Landschaft. Helle Hügel, ein Mosaik von Feldern und Gewässern, Wiesen, Obstgärten und Wald, wandernde Wolken, grenzüberschreitende Horizonte, Dörfer und Bauernschaften – der Bliesgau. Das „panoramische“ Gefühl kann süchtig machen. Ein Feldweg zweigt von der Straße ab, windet sich bergan und verschwindet im Waldinneren. Ich kann mich seiner Sogwirkung kaum entziehen. Ob ich Liz und Jörn Wallacher, mit denen ich an diesem Sonntagnachmittag unterwegs bin, vorschlagen soll, den Wagen stehen zu lassen, auszusteigen und dann: einfach losgehen? Doch wir sind schon am Ziel, dem Wintringer Hof.

Ansprache von Ulrich Grober während der Veranstaltung in der Wintringer Kapelle

Der Hof, sagt Peter Michael Lupp zur Begrüßung, bildet sozusagen die „Pforte“ zum Biosphärenreservat Bliesgau. Sie besteht aus zwei Säulen. Eine Gemeinschaft – mit zum Teil behinderten Menschen – betreibt hier auf großer Fläche und ziemlich erfolgreich Biolandbau. Inmitten des Gehöfts erhebt sich ein Relikt aus dem Mittelalter. Es ist ein exquisites Stück spätgotischer Architektur, behutsam restauriert, die Reste einer ehemaligen Prioratskirche. Sie dient heute als „KulturOrt“. Als Raum und Freiraum der Sorge für die immateriellen Bedürfnisse: Zur Ruhe kommen, in der Zwiesprache mit sich selbst und dem Dialog mit anderen neue geistige Perspektiven erschließen, gemeinsame Werte und Ziele definieren. Es sind Kulturorte – Denkorte – Lernorte wie dieser, die den Zusammenhalt von Gemeinwesen, von Regionen dauerhaft stiften. Wir brauchen sie dringender denn je. Die neue Bestimmung dieser Kapelle ist im Grunde eine Rückkehr zu den Wurzeln. Dieses Bauwerk entstand im Herbst des Mittelalters, einer Zeit multipler Krisen – Pest, Not, apokalyptische Ängste und Hunger nach Spiritualität.

Ansprache von Manfred Zimmer während der Veranstaltung in der Wintringer Kapelle

Manfred Zimmer, 1. Vorsitzender der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen e.V., hob hervor, dass der Wintringer Hof bereits 25 Jahre nach den Richtlinien der ökologischen Landwirtschaft bewirtschaftet wird und als Vorzeigebetrieb für den Ökolandbau wichtige Impulse für die nachhaltige Entwicklung in der Region Saarbrücken setzt.

Innenansicht Wintringer Kapelle mit Werken von Hermann Bigelmayr

Sofortiger Blickfang beim Betreten des Innenraums ist eine hölzerne Skulptur. Sie ragt neun Meter empor, stößt an die Gewölbedecke. Aus einem Ahornstamm gearbeitet, stellt sie einen Getreidehalm dar, der den steinernen Boden durchbrochen hat, überdimensional gewachsen ist und an der Decke einknickt. Ein spitzes Blatt hat sich vom Halm gelöst. Ein einsames Korn – grotesk groß gewachsen – ist zu Boden gefallen und liegt von der Spreu getrennt. Hermann Bigelmayr – „Die Grenzen des Wachstums“. Das Kunstwerk ist für diesen Raum geschaffen. Sein Titel spielt auf den berühmt gewordenen Bericht des Club of Rome an. Dieser Bericht war eine frühe Warnung vor den Risiken des exponentiellen Wachstums unserer Industriegesellschaft. Am 12. März 1972, fast auf den Tag genau vor vierzig Jahren, wurde der Bericht der Weltöffentlichkeit vorgestellt – und setzte weltweit den Diskurs über Nachhaltigkeit und eine sich daran orientierende Suchbewegung in Gang.

Der Raum füllt sich mit Besucherinnen und Besuchern: junge, alte, Leute vom Hof, altgediente Forstleute, ein junger Sinologe, ein Architekt und Aktivist, eine engagierte Erzieherin, ein Gast aus Polen – nur ein Querschnitt meiner Begegnungen im Laufe dieses Nachmittags. Mein Einstieg in den heutigen „Diskurs zur Ausstellung“ ist ein Goethe-Wort: „...gebackenes Brot ist schmackhaft und sättigend – für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.“ Ein wunderbares Sinnbild für Nachhaltigkeit. Jeder versteht es, erst recht hier, im landwirtschaftlichen Ambiente des Wintringer Hofes. Goethe verachtet keineswegs das tägliche Sattwerden, den Genuss, das Aroma von frischgebackenem Brot, die Selbstsorge. Aber, so sagt er, zur Selbstsorge gehört die Sorge um das Saatgut, also die Vorsorge. Und damit bringt er die Bedingungen für das Wachsen und Gedeihen der Saaten ins Spiel: die Bodenfruchtbarkeit, den Wasserhaushalt, die Biodiversität, mit einem Wort – die Ökologie.

Weizenähren

Die Natur kennt kein grenzenloses Wachstum. Nur Keimen, Wachsen, Reifen und Vergehen. Das Können – und die Weisheit – des Landwirts und des Försters besteht darin, im Moment der höchsten Reife zu ernten. Und gleichzeitig für die „Naturverjüngung“, die Regeneration zu sorgen. Die Vorstellung permanenten Wachstums von Strukturen entspringt menschlicher Hybris. Diese Logik führt unweigerlich in den... Kollaps. Das war vor vierzig Jahren die Botschaft des Club of Rome und ist hier und heute die Aussage von Hermann Bigelmayrs Skulptur.

Impression der Veranstaltung: Blue marble – Foto der Erde aus dem Weltraum

Ein zweiter Einstieg, diesmal über ein Bild, eine Ikone unserer Epoche: „Blue marble“, das Foto der Erde, aufgenommen aus 45.000 Kilometern Entfernung durch die Besatzung des Raumschiffs Apollo 11 im Dezember 1972, ein paar Monate nach Erscheinen der „Grenzen des Wachstums“. Drei Schlüsselwörter sind für die zeitgenössische Deutung des grandiosen Bildes wesentlich: Als die Menschheit zum erstenmal in ihrer Geschichte den blauen Planeten von außen sah, staunte sie über seine Schönheit, seine Einzigartigkeit, seine Zerbrechlichkeit. Aber was macht ihn so schön, so einzigartig? Was ist daran so zerbrechlich? Es ist dieses „Muster aus Wolken, Ozeanen, grünem Land und Böden“ (Brundtland-Bericht), diese hauchdünne, zarte Schicht, die alles Leben trägt – die Biosphäre. Die Liebeserklärung an den blauen Planeten und der Respekt vor dem winzigen Ausschnitt Biosphäre vor unserer Haustür sind komplementär.

Pilgerweg

Plötzlicher Gedankenblitz, hier an diesem Ort im Biosphärenreservat Bliesgau: Die ganze Erde nach und nach in ein Biosphärenreservat umwandeln – das wäre doch genuin nachhaltig, oder? Die weltweit 553 heutigen Reservate sind nur ein Anfang, Pioniergewächse sozusagen, aber als solche unendlich kostbar.

Als wir nach draußen treten, hat ein sanfter Frühlingsregen eingesetzt. Trotzdem machen sich die meisten Besucher gemeinsam auf den Weg. Die Route, von Peter Michael Lupp ausgesucht, führt über ein Stück eines wiederentdeckten Pilgerweges. Ein Blick zurück. Vom Weg aus ist zu sehen, wie weit der Hofkomplex mit seinen Stallanlagen, Werkstätten, mit dem Gewächshaus und dem Hofladen sich ausdehnt. Ein kleines Stück Gemeinwohl-Ökonomie in einer uralten Kulturlandschaft. Dann sind wir im Wald. Aufstieg zum Kappelberg. Die Erde riecht frisch. Buschwindröschen, Märzenbecher und andere Frühblüher blühen schon. Der Bärlauch ist da. Die Knospen an den Buchen und Eichen sind prall. Auch jetzt am Nachmittag ist noch ein vielstimmiges Vogelkonzert zu hören. Mönchsgrasmücke und Buchfink, Rotkehlchen und Kohlmeise.

Wegestück mit Feldsteinen

An einem freigelegtem mit Feldsteinen befestigten Wegestück halten wir inne. Ein Überrest von einem versunkenen mittelalterlichen Stück Straßenbau, vielleicht sogar aus römischer Zeit, erklärt Peter Michael Lupp.

Auch Jakobspilger sind hier im Schutz von Kaufmannszügen auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela durchgezogen. Erst kürzlich hat man die Steine im Boden wieder entdeckt. In einem Qualifizierungsprojekt mit Jugendlichen auf der Suche nach Perspektiven wurden die Relikte freigelegt.

Aussichtspunkt mit Blick auf die Vogesen

Wer auf den Wegen durch das Land, diesem alten Grenzland zwischen Lothringen und dem Saarland, wandert, fühlt früher oder später: Du bist Teil einer reichen Geschichte. Dann ein Aussichtspunkt. Bei klarer Sicht schweift der Blick von hier bis zum Donon-Massiv der nördlichen Vogesen, an dessen Abhang die Saar entspringt. Wir sind im Herzen Europas. Aus der Verknüpfung von intakter Natur und exquisiter Kultur entsteht Lebensqualität – liegt hier nicht die Essenz des „europäischen Traums“?

Nachtrag, 31. März 2012
Die FAZ veröffentlicht einen Leserbrief von Pia Ahrenkilde-Hansen, ihres Zeichens Sprecherin der Europäischen Kommission in Brüssel. In dem kurzen Text erscheint in jedem zweiten Satz das Mantra von der „Notwendigkeit wachstums- und beschäftigungsfördernder Maßnahmen“. Von der Einsicht, dass mehr Wachstum keine Sicherheit erzeugt, sondern den Weg in den Kollaps beschleunigt, ist man auf dieser Ebene auch vierzig Jahre nach den „Grenzen des Wachstums“ noch weit entfernt. Der Mut zum Weniger wird die Basistugend einer nachhaltigen Gesellschaft sein. Aus einem Minimum an Ressourcen ein Maximum an Lebensqualität für alle zu erzeugen – das ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Wird sie noch früh genug verstanden?

Zum Weiterlesen
Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs, Antje Kunstmann Verlag, München 2010, 298 Seiten. Preis: 19,90 €