LUPAMBULUS

Gebärder der Liebe

Peter Michael Lupp Röntgenaufnahme einer hölzernen Skulptur des Heiligen Wolfgangs aus dem 16. Jahrhundert, die die detaillierte interne Struktur zeigt

Hintergrund

Vor etwa 500 Jahren war die Wintringer Prioratskirche der Prämonstratensermönche aus Wadgassen dem Heiligen Wolfgang gewidmet. Die Ehrerweisung gegenüber dem Heiligen beruhte offenbar auf den Tugenden, die seine Lebensweise geprägt haben. Nicht zuletzt auf Grund seiner humanistischen Lebenseinstellung, wurde er seit dem späten Mittelalter bis ins 18. Jh. vor Ort als Hoffnungsträger verehrt.

Die Beweggründe, die ausgerechnet zur Berufung des Heiligen Wolfgangs als Schutzpatron der Prioratskirche in Wintringen geführt haben, sind nicht überliefert. Die Indizien, die sich aus der Biografie des Heiligen in der Zusammenschau mit dem Zeitgeschehen im 16. und 17. Jh. ableiten lassen, wurden zum Ausgangspunkt einer forschenden Suchbewegung, die ein neues Denken über Tugenden und Herzensbildung über die Sprache der Kunst ins Heute übertragen sollte.

Titel des Kunstprojektes

„Lupambulus“ ist die lateinische Form des Namens „Wolfgang“, der sich aus den lateinischen Wörtern „lupus“ [Wolf] und „ambulare“ [gehen, wandern] zusammensetzt. Die ungewöhnliche und geheimnisvolle lautende lateinische Übersetzung dieses Namens lieferte den Titel eines Kunstprojektes, das Licht auf die Gründe der Anrufung des Heiligen Wolfgangs in der Wintringer Kirche bis in die heutige Zeit werfen sollte.

Inhalt und Methodik der Suchbewegung

Die Herangehensweise des Kunstprojektes folgte der Idee der künstlerischen Forschung, um neue Erkenntnisse zum Thema auszuloten, um sie auf künstlerische Art und Weise im Hier und Jetzt zu reflektieren. Prozessorientiert kamen dabei verschiedene künstlerische und kunstwissenschaftliche Methoden zur Anwendung.

Übergeordnet richtete sich diese künstlerische Suchbewegung – wie bei allen Kunstprojekten, die zuvor am KulturOrt Wintringer Kapelle realisiert wurden – auf die Fragestellung, inwieweit sich aus einem in den Ort in der Vergangenheit eingeborenen Thema, auch heute noch gesellschaftsrelevante und soziokulturelle Aspekte über die Sprache der Kunst entfachen lassen.

Bedeutung eines Heiligen als Schutzpatron und Vorbild?

Die Frage nach Bedeutung des Heiligen Wolfgangs als Schutzpatron des Ortes im späten Mittelalter war bislang kein Thema für ein Kunstprojekt. Doch bei näherer Betrachtung ergaben sich spannende Fragen: War er den Menschen eine Leitfigur in einer Zeit voller Umbrüche? Inwieweit wurde seine Kunst zu leben antizipiert? Wurde er zum Vorbild für eine Lebensweise, dessen Werte, Ziele und Handlungen auch das eigene Leben inspirieren sollte, um gleichsam heilsam, erlösend [von Sünden] für die Seele zu sein?

Mittels einer reflexiven bzw. forschenden künstlerischen Annäherung wurde der Frage nachgespürt, mit welchem Credo das Patrozinium [von lateinisch patrocinium ‚Beistand'] des Heiligen Wolfgangs den Menschen im 16./17. Jh. in der Wintringer Prioratskirche geistigen Beistand und Lebenssinn gestiftet hatte.

Nachweislich lieferte der Heilige den Menschen auf Grund seines gütigen und menschenfreundlichen Wesens ein Vorbild für den eigenen Lebenskontext. Seine Kunst zu leben und Tugenden glaubwürdig zu verwirklichen war für viele Menschen ein Hoffnungsschimmer.

Sehnsucht nach einer neuen Ordnung

Im späten Mittelalter verbreitet sich der Kult um den Heiligen Wolfgang wie ein Lauffeuer, das ihm das Pathos einer europäischen Lichtfigur verlieh. Der Rückblick auf das Zeitfenster der Anrufung des Heiligen Wolfgangs in Wintringen ließ erahnen, dass gesellschaftliche Problemstellungen, die in jener Zeit auch durch Armut und machtpolitische Eruptionen wie die Bauernkriege beeinflusst waren, heute noch in veränderter Form eine gesellschaftspolitische Relevanz haben. Ähnlich wie in der Gegenwart, war die Zeit des ausgehenden Mittelalters bis ins 17. Jh. von Umbrüchen und einer sich verändernden Weltordnung geprägt. Getrieben von drängenden Fragen kreisten schon damals Themen wie Mitmenschlichkeit, Menschenrechte, Machtmissbrauch, Ungleichheit und Solidarität. Wie erneuert knüpft diese Suchbewegung ungebrochen an die aktuellen Herausforderungen an. Unverändert spielen Ängste vor Tod, Armut, Krankheit, Krieg, aber auch der Verlust von Lebenssinn und -ziel im irdischen Leben eine entscheidende Rolle bei der seelischen Befindlichkeit von Menschen.

Transformation durch die Sprache der Kunst

Zentrale Zielsetzung des Kunstprojektes war es, die Konventionen und Wahrheiten über die Rolle der Figur des Heiligen in der Vergangenheit zu konkretisieren und falls sinnvoll, über die Sprache der Kunst in ein heutiges Zeitverständnis zu transformieren.

Dabei wurde untersucht, ob sich mittels der Sprache der Kunst, aus den Essenzen der „Lebenskunst“ des Heiligen Wolfgangs eine Matrix seelischer Kernzustände im menschlichen Dasein ableiten lassen. Mit diesem Fokus stellt sich die Frage, was Menschen in der aktuellen diversen, sozialen Gemeinschaft lebenstauglich macht.

Emporgereicht – Humane Lebensformen des Heiligen Wolfgangs

Alle Recherchen führten zu dem Ergebnis, dass der Fond, die Figur des Heiligen Wolfgangs, mittels neuer Bilder durch die Zeit zu zeichnen im Kern vorgelebte Tugenden sind. Diese wurden ihm schon zu Lebzeiten zugeschrieben und über Generationen als Vorbild weitergereicht. Aus den durchaus vielschichtigen Charaktereigenschaften, die nach den Quellenrecherchen mit dem Heiligen Wolfgang korrespondieren, wurden zwölf Tugenden ausgewählt, die eine hohe Wahrscheinlichkeit mit dem überlieferten Wesen und Charisma des Heiligen aufweisen:

Liebe | Barmherzigkeit | Glaube | Respekt | Geduld | Wahrhaftigkeit | Gerechtigkeit | Besonnenheit | Friedfertigkeit | Demut | Mäßigung | Weisheit

[Das Übungsfeld: Ethische Lebensschulung und Bildreflexion im Alltag. Die Förderung des Selbstdenkens im Hinblick auf verantwortungsvolles Handeln basiert auf der Energie mit der eine Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen im eigenen Lebenskontext erfolgt und eine vertiefte Bewusstheit für bestimmte Tugenden im Alltag hergestellt wird. Die dem Heiligen Wolfgang zugeordneten Tugenden ergeben im Zusammenspiel mit der Bildsprache ein gedankliches Übungsfeld für den Alltag. Empfehlenswert ist ein Ritual, das sich vor Ort am KulturOrt Wintringer Kapelle, aber auch mit Unterstützung der virtuellen Darstellung vollziehen kann, um sich in einer ungeteilten „Andacht“ [Innehalten | Reflexion der Inhalte und Bilder | Bewusstheit] einen Moment den folgenden Inhalten zu widmen:

Liebe: Die bedingungslose Zuneigung und Fürsorge für andere.
Barmherzigkeit: Das Leid und die Not anderer Menschen wahrzunehmen und aktiv durch Taten zu helfen, anstatt nur Mitleid zu empfinden.
Glaube: Das Vertrauen in etwas Höheres und die eigene Überzeugung.
Respekt: Die Wertschätzung anderer Lebewesen und ihrer Grenzen.
Geduld: Die Fähigkeit, ruhig und gelassen zu bleiben, auch unter schwierigen Umständen.
Wahrhaftigkeit: Die innere Haltung, in Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zu denken und zu handeln.
Gerechtigkeit: Das Bestreben, fair und unparteiisch zu handeln.
Besonnenheit: Die Fähigkeit, sich zu beherrschen und überlegt zu handeln.
Friedfertigkeit: Das Bestreben, Konflikte zu vermeiden und Frieden zu stiften.
Demut: Eine Haltung der Bescheidenheit, des Respekts und der Offenheit.
Mäßigung: Die Fähigkeit, Maß zu halten, Extreme zu vermeiden, die eigenen Begierden und Gefühle zu zügeln, um eine innere Mitte zu finden und im Gleichgewicht zu leben.
Weisheit: Die Fähigkeit, Wissen und Erfahrung zu nutzen, um kluge Entscheidungen zu treffen.

Übertragung, Vermittlung und Interpretation gewonnener Erkenntnisse und Wissensbausteine in künstlerischen/ästhetischen Ausdrucksformen

Das ermittelte Wissen zum Thema wurde zum Ausgangspunkt einer künstlerisch gestalteten Bildsprache, um den Betrachtern aus der Tiefe der Zeit einen ganz neuen Blick auf das Thema zu ermöglichen. Quellenforschungen, kunsthistorische Analysen und die Anwendung verschiedener Experimente anderer wissenschaftlicher Disziplinen, lieferten den Fond zu diesen neuen künstlerischen/ästhetischen Ausdrucksformen. Die entstanden Bildformate präsentieren sich in der Kapelle in unterschiedlichen Gestaltungsformen und Positionen, um die Empfänglichkeit für eine zeitübergreifende Botschaft zu erhöhen und zu einer Auseinandersetzung einzuladen:

Der Bischof – Lupambulus

Thema: Stellvertreter für die Bildsprache des 16.Jh.
Position: Installation vor dem Portal der Sakristei

Im Zentrum steht eine hölzerne Skulptur des Heiligen Wolfgangs aus dem 16. Jh., die nach längerer Suche erworben werden konnte. Als authentischer „Stellvertreter“ übernimmt diese Skulptur als – „Lupambulus“ - die verlorene historische Bildsprache die im 16. Jh. den Gläubigen in der Kirche zur Anschauung diente. Die hölzerne Skulptur wurde in einem ersten Schritt kunsthistorisch analysiert und wurde dann zum Ausgangspunkt verschiedener Experimente um neue „Bilder“ in die Gegenwart zu übermitteln. Dazu wurde das Werk radiologisch untersucht und als Stellvertreter in eine systemische Aufstellungsarbeit involviert.

„X-Ray“ Radiologische Untersuchungen

Thema: Innenschau, Visualisierung mit neuer Technik

Im ersten Experiment wurden radiologische Untersuchungen zum Einsatz gebracht, um daraus Rückschlüsse auf weitere Möglichkeiten der Interpretation der künstlerischen und sinnlichen Aussagekraft der Skulptur zu erhalten. Freundlicherweise konnten von der Skulptur des Bischofs in der radiologischen Abteilung Xcare des Kreiskrankenhauses St. Ingbert sowohl Röntgenbilder als auch eine Computertomografie gemacht werden.

Die Bilder offenbarten das bislang Unsichtbare mit hohem ästhetischem Charakter und zauberten eine vollständig neue Haptik des Bischofs. Am ehesten vergleichbar mit einer Federzeichnung, akzentuierten die entstandenen Bilder die Gestalt des Bischofs als Innen- und Außenschau zugleich. Das unsichtbare Licht förderte etwas zu Tage, das unterhalb der gegenständlichen Oberfläche eine gänzlich neue Ästhetik auf der emotionalen Ebene der visuellen Sprache ans Licht holte.

Das Kreuz des Bischofs

Thema: Richtung und Maß
Position: In der Installation des Kirchenfensters

Unter dem Schulterbereich des Chormantels des Bischofs hebt die Röntgenaufnahme zudem ein weiteres interpretierbares Zeichen hervor: ein schlichtes Kreuz in Form des Urkreuzes [Crux immissa quadrata] mit vier gleichlangen Armen. Ein archaisches Sinnzeichen aus vorchristlicher Zeit: eine Kreuzung von zwei Linien, die aus dem Offenen kommen und sich ins Offene erstrecken, um eine Verbindung zwischen Himmel und Erde und für Richtung und Maß anzudeuten. Raum und Zeit überschneiden sich im Kreuzungspunkt.

Der Malgrund

Thema: Hintergrund / Intuition durch energetisch erzeugte Malerei auf Grundlage von Farbbefunden

Auf Grundlage zeitgenössischer Farben wurde durch einen Prozess der energetischen Malerei ein „Malgrund“ erzeugt. Die Farben basieren auf Befunden von Resten der Deckenmalerei und der Fassung der Skulptur des Bischofs. Der Vorgang erzeugte sowohl eine verbindende Bild- Komposition als auch einen weiteren intuitiven Zugang zum Thema.

Gestaltung des Kirchenfensters

Thema: „Innere Energie“ des Werkes freizusetzen
Position: Installation im Kirchenfenster über dem Portal der Sakristei

Der Malgrund lieferte die Farbgebung der digitalen Bearbeitung eines Röntgenbildes Ein mit diesen Farben gefasster Ausschnitt fokussiert auf den ungewöhnlichen Faltenwurf der Skulptur des „Lupambulus“.

Die tief einsinkenden Falten der Gewänder verbergen augenscheinlich bestimmte Bereiche und lassen andere sichtbar werden. Die Vielschichtigkeit der Gewänder des Bischofs und die Falten, die sich über ihnen abzeichnen, offenbarten sich in den Röntgenaufnahmen in einer unvorhersehbaren Transparenz und Feinstofflichkeit und verdeutlichten diesen metaphorischen Sinngehalt. Innen und außen, Introversion und Extraversion werden zum Thema. Kaum einsehbare Bereiche wurden leuchtend, vergleichbar mit einem figuralen [Wasser-]Zeichen sichtbar. Es entstand der Eindruck, als wollte der Künstler symbolisch darstellen, dass bestimmte Dinge im Lauf des Lebens tiefgründig oder schwer zu durchschauen sind und Geduld und Gelassenheit einfordern.

Der Rückschluss aus dieser Interpretation des Faltenwurfs der Skulptur lässt die Annahme zu, dass sich erst im Licht eines höheren Bewusstseins eine ganzheitliche Betrachtung der Daseinsberechtigung und des Lebensauftrags ergibt, um auf diesem spirituellen Weg enthüllt werden zu können.

Mittels einer digitalen Bearbeitung der Röntgenbilder war es möglich, dieses Spiel der Falten der Gewänder des Bischofs zu akzentuieren und auf eine metaphorische Ebene zu einem passgenauen LichtBild zu transformieren. Den farbigen Fond des Fensterbildes lieferte ein Gemälde, das in zeitgenössischen Farben abgelegt wurde Dieses Bild wurde auf das Kirchenfenster oberhalb der Pforte zur Sakristei übertragen.

Das Experiment führte zu einer Entmaterialisierung der Skulptur und erlaubte so eine völlig neue visuelle Wahrnehmung des Werkes. Sprichwörtlich eröffnete das unsichtbare Licht eine Einsicht in die verborgene Welt des Innenlebens der Skulptur, die ins Außen strahlt.

Hinweis: Ein vollständiges Abbild der Röntgenaufnahme wird in einer Sakramentsnische dargestellt

Position: Installation in der rechten Nische im Chor

Methodik: „Systemische Aufstellung“ in analoger Anwendung

Thema: Rückverbindung in eine andere Zeit

Ein weiteres Experiment bestand in einer analogen Anwendung der systemischen Aufstellungsarbeit. Zur Anwendung dieses Verfahrens wurde mehreren Menschen zunächst die Vita des heiligen Wolfgangs, die Gründe seiner Anrufung als Heiliger und die Geschichte des Priorates von Wintringen, in der auch die Erwähnung des Heiligen eine Rolle spielt, vorgestellt.

Dazu wurden mehrere Menschen im Gegenüber der Skulptur und der Röntgenaufnahmen im Hinblick auf deren emotionale Wirkung befragt. Diese ersten Befragungen ergaben, dass eine längere Betrachtung der Skulptur und der Röntgenbilder eine Rückverbindung in eine andere Zeit auszulösen vermag. Die Skulptur wurde von allen Befragten als gleichwertiger Stellvertreter einer verlorenen zeitgenössischen Bilddarstellung des heiligen Wolfgangs in der Wintringer Kirche angenommen. Auf die Frage, welche menschlichen Züge die Skulptur – im Sinne von Charaktereigenschaften – bei einer vertieften Anschauung vermittelt, gab eine überraschende Übereinstimmung mit den Wesensmerkmalen, die auch dem heiligen Wolfgang zugesprochen werden, allem voran Mitmenschlichkeit, Liebe, Demut und Weisheit.

Der poetische Leitgedanke

Thema: Lyrische Annäherung
Position: Beschriftung auf dem Postament der Skulptur des Bischofs

Um in einer weiteren emotionalen Auseinandersetzung die überlieferte Anrufung des heiligen Wolfgangs mit dem Augenblick zu verknüpfen, entwickelte sich aus einem „Gedankentanz“ ein Dichtwerk der zum poetischen Leitgedanken des Kunstprojektes wurde:

LUPAMBULUS Gebärder der Liebe   Lichtgestalt ohne zu blenden Zugewandter ohne Widerspruch Sprechender ohne Worte und Stellung Hingezogener aus einer anderen Welt Aus der Tiefe der Zeit dringt Dein Blick Nachhall in die Welt Güte als Widerschein Nicht gegen sondern zu Wie Mondschein Durch die Dunkelheit der Nacht ins Jetzt Im Blickwechsel Verliert sich der eigene Schein im Licht der Welt Lösen sich Schalen, Krusten und Masken Ins Du Verweben sich Risse Mit dem Saum Deines Gewandes   Zeichen

Fotografisches Experiment

Thema: Zeitgrenzen symbolisch verwischen I Zuordnung der 12 Tugenden

Ein wichtiger weiterer Schritt, um die eher abstrakte Vorstellung der zwölf angestammten Tugenden des heiligen Wolfgangs bildlich in die heutige Zeit zu rücken, basierte auf dem Medium der Fotografie. Mittels dieses Mediums sollten die Zeitgrenzen verschwimmen. Dazu wurde die Skulptur des Bischofs als zeitgenössischer Stellvertreter des Heiligen mit dem Malgrund auf fotografische Art und Weise in Beziehung gesetzt. Fototechnisch wurde dabei mit der Intensität der Farbgebung und der Erzeugung von punktueller Unschärfe gespielt. Der Blick auf das gegenwärtig Sichtbare sollte sprichwörtlich entschärft werden, um die Zeitgrenzen symbolisch zu verwischen. Ausgangspunkt der fotografischen Tiefenschau war die außergewöhnliche Physiognomie des Kopfes der Skulptur des Bischofs aus dem 16. Jh. In der durch analoge Technik [„Bokeh“ Technik; jap. Dunst] entstandenen Unschärfe vor dem Hintergrund der farbigen Kraft des Malgrundes entstanden Bildporträts, die eine neue Beobachtung evozieren. In freier Anmaßung, inwieweit die Fotografien für das Durchscheinen der geistig-seelischen Begabung des heiligen Wolfgangs stehen können, wurden den zwölf Tugenden zwölf [Unschärfen-]Fotografien zugeordnet und ein „Porträt“ des Bildhauers erstellt.

Das Bodenzitat

Thema: 12 Tugenden (spirituellen Narrative) in Verbindung mit Bodenhaftung bringen
Position: Auf dem Fußboden neben dem Chorbogen am hinteren Ausgang

Die zwölf fotografisch erzeugten „Tugendbilder“ des Heiligen Wolfgangs wurden zum integralen Bestandteil einer Bodeninstallation. Dazu wurden noch erhaltene historischen Tonfliesen der Kapelle aus dem 16. Jh. für ein Bodenzitat reaktiviert um die spirituellen Narrative, die sich in den zwölf Tugendbildern fotografisch artifiziert haben, darzustellen.

Für das Bodenzitat wurde ein beweglicher Rahmen entwickelt in den die historischen Tonfliesen, die ursprünglich in einem Sandbett verlegt waren, eingelegt wurden. In zwölf Aussparungen wurden im gleichen Format Bildträger mit den Fotoarbeiten zu den zwölf Tugenden des Heiligen Wolfgangs ergänzt. Die Zuordnung der verfremdet dargestellten Tugenden wird über eine Matrix im unteren Fenster der nördlichen Seitenarkade dargestellt. Daneben wird das Bodenzitat gezeigt.

Figurales Zeichen [Dreh-]Momentum

Thema: Energie, die dazu antreibt, das Leben immer wieder aus neuen Blickwinkeln zu betrachten
Position: Installation neben dem Chorbogen am Haupteingang

Die Skulptur des Bischofs wurde während dem Experiment der radiologischen Untersuchungen bei Xcare im Kreiskrankenhaus St. Ingbert auch einer Computertomografie unterzogen. Das Ergebnis war eine Abfolge von dreidimensionalen Bildern der Skulptur, die sich nun auf dem Bildschirm zu drehen begann und immer neue Momentaufnahmen des durchleuchteten Bischofs sichtbar machte. Die ungewöhnlichen Einzelaufnahmen generierten eine Bildstrecke von Drehmomenten, die in ihrer Unaufhaltsamkeit an eine Fließbewegung durch die Zeiten erinnerte. Eine Energie, die dazu antreibt, das Leben immer wieder aus neuen Blickwinkeln zu betrachten, um Rückschlüsse zu erhalten, wie das Leben gestaltet werden kann? Die statische Version der Fotoserie lieferte die Idee, die zwölf Tugenden, die dem heiligen Wolfgang im Rahmen des künstlerischen Prozesses zugeordnet wurden, jeweils einem Drehmoment zu zuordnen. Drehmomente, die es den Betrachtern visuell erlauben, in der Vielfalt von Optionen zu sondieren, um Raum zu schaffen für Reflexionen. Für zwölf der Momentaufnahmen wurde eine Farbe aus dem Farbkanon der UNSECO-Biosphärenreservat Bliesgau gewählt, um die zwölf Tugenden visuell hervorzuheben?

EPILOG

Das Wesen der Dinge ist unbegreiflich, aber es nicht unerkennbar.

Thomas von Aquin

Die Idee, mehr Wissen über die Bedeutung des heiligen Wolfgangs als Schutzpatron der Wintringer Kirche in der Anwendung der Methodik der künstlerischen Forschung zu generieren und daraus Projekte zu entwickeln, war spannend und lohnenswert zugleich. Nicht das Produzieren stand im Mittelpunkt, sondern die Aufmerksamkeit auf Experimente, in denen etwas Unvorhersehbares geschah. Die Verflechtung von wissenschaftlichen und künstlerischen Praktiken hat zu einer Bildsprache geführt, die ohne diesen methodischen Ansatz nicht möglich gewesen wäre. Die neu entstandenen Wissensbausteine und Bilder bieten nun eine neue Form der Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsaneignung zum Thema.

Die lateinische Übersetzung des Namens Wolfgang – Lupambulus – hat dem künstlerischen Prozess einen geheimnisvollen und heiteren Charakter geschenkt. Aus vergangenen Botschaften, die sich über die Lichtfigur des heiligen Wolfgangs vor langer Zeit in den Resten einer ehemaligen Prioratskirche eingebettet haben, wurden im Rahmen einer künstlerischen Suchbewegung neue Bilder und Zeichen für die Wirklichkeit freigelegt: Liebe als Grundverständlichkeit zwischen Menschen. Herzensbildung im Spiegel der Kunst im Alltag.

Die Ideale, die der Heilige Wolfgang als „Vorbild“ und auch über die Sprache der Kunst [Skuptur, Gemälde] sinnstiftend in der Wintringer Kirche an Suchende offenbarte, wurden im Verlauf des Projektes ausreichend und nachvollziehbar analysiert und zwölf entsprechenden Tugenden zugeordnet.

Das nunmehr freigelegte emotionale „Wirkungsfeld“, das sich über 500 Jahre durch Überlieferungen und künstlerisch gestaltete Bilder des heiligen Wolfgangs den suchenden Menschen in der Wintringer Kirche offenbarte, konnte in einer poetisch-künstlerischen Bildsprache vor Ort, im Rahmen einer mehrteiligen Installation von Bildwerken, in die Gegenwart transformiert werden.

Die Auseinandersetzung mit dem Werk in all seinen Facetten versteht sich als Einladung, dem eigenen Leben und Handeln einen menschenwürdigen Wertekanon zu Grunde zu legen und diesen auch entgegen aller Widerstände aufrechtzuerhalten.

Das Projekt verdeutlicht, dass die Integration der Kunst in diesen Prozess zu einer inspirierenden Triebfeder werden kann, die Experimentierfreude weckt und unvorhersehbare neue Sichtfelder eröffnet.

Doch die Entwicklung und kontinuierliche Verfeinerung dieser Kunst, das Leben trotz aller Widersprüchlichkeiten zu gestalten, ist keine angeborene Fähigkeit, sondern erfordert eher eine ganz persönliche „Ganztagsschule ohne Ferien“, in der Liebe durch Meditation, Gebet, Naturerlebnisse, Kunst und zwischenmenschliche Begegnung zum Grundverständnis wird.

Vorbilder und die gesellschaftlichen Herausforderungen reflektierende Künste können dabei eine entscheidende Rolle übernehmen, um tragfähige Charaktereigenschaften und Wertvorstellungen in konkretes Handeln umzusetzen, und den eigenen Standpunkt zu festigen. Gleichfalls wird damit eine Grundlage für soziales Miteinander sowie demokratisches und ökologisch tragfähiges Handeln inspiriert.

Diese Erfahrung, die mit diesem ungewöhnlichen Kunstprojekt gemacht werden konnte, unterstreicht die Idee, auch einen forschenden Ansatz zum Ausgangspunkt und zur Inspirationsquelle von Kunstprojekten zu machen. Insbesondere dann, wenn es darum geht, drängende Themen in eine kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung einzubinden.

Lupambulus sei Dank!

Mit diesem Kunstprojekt schließt ein Zyklus von ortsbezogenen Kunstprojekten, die am KulturOrt Wintringer Kapelle in den letzten 30 Jahren entwickelt und diskutiert wurden, ab. Als Essenz dieser Kulturarbeit, die ich über diese lange Zeit kuratorisch begleiten durfte, möchte ich zeigen, dass die Methodik künstlerisch zu einem ausgewählten Thema zu forschen zu unerwartet neuen Sichtweisen und Erkenntnissen führen kann. Gleichzeitig zeigt das Projekt, dass sich Geschichte an Orten ablagert und nicht ohne weiteres ignoriert werden kann, wenn wir Rückschlüsse ziehen wollen, wie wir uns menschlich in der Gegenwart aufstellen wollen. Die Künste sind unschlagbar darin, Leben unter bestimmten Umständen zu vermitteln oder auch herauszuschälen, was Erinnerung für neues Denken und Handeln in der Gegenwart bedeutet!

Es ist an der Zeit, dass wir begreifen, dass Orte der Kunst und der Kultur, die sich ernsthaft auch über die Sprache der Kunst mit den Herausforderungen unserer Zeit stellen, eine zentrale Funktion für die politische und kulturelle Bewusstseinsbildung haben!

Peter Michael Lupp [Kurator KulturOrt Wintringer Kapelle I Kunstschaffender]