FENSTER in­zwi­schen den Welten

Genc Mulliqi
Galleriebild #1
FENSTER inzwischen Welten   Wenn wir mit reichem Licht tief hineinschauen in das Innerste im Inneren hebt sich Begrenztes in Unbegrenztes auf, erheben sich hinter Schatten neue Bilder.   Wenn wir dann hinaufschauen aus dem Innersten im Inneren verwandeln uns die Bilder und wir erkennen das neue Land.   Wenn wir dann heraustreten aus dem Innersten im Inneren beginnt das neue Land zu leben.

Peter Michael Lupp

Die gedrungene Architektur der Romanik ließ durch verhältnismäßig kleine rundbogige Fenster ein eher schummriges Licht in den Innenraum der Kirchen einfluten. Die Gotik begann danach mit der statischen Unter­stützung von Strebepfeilern das Mauerwerk „himmelwärts“ in die Höhe zu ziehen. Dies erlaubte auch die Konstruktion von schlanken, hohen Maßwerkfenstern, die mit geometrischen Steinornamenten auf die Trinität und das „rechte Maß“ anspielten. Mit biblischen Motiven aus buntem Glas verbreiteten diese Kirchenfenster im Inneren durch das „göttliche [reiche] Licht“ eine Transzendenz, die eine Ahnung des himmlischen Jerusalems vermitteln sollte.

Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund entstanden in den Wandflächen, des heute noch erhaltenen Chores und der Apsis, der ehemaligen Prioratskirche von Wintringen in der späten Gotik Maßwerkfenster.

Im 30jährigen Krieg wurde die Prioratskirche bis auf Reste des Chors zerstört und damit auch die mittelalterlichen Fenster. Beim Wiederaufbau im 17./18. Jahrhundert – als „Wintringer Kapelle“ – wurde eine barocke Gliederung der Fenster gewählt.

2020 nimmt der albanische Bildhauer Genc Mulliqi am KulturOrt Wintringer Kapelle in seinem Werk Bezug auf die Fenster als metaphorische „Lichtbrücke“ zwischen dem Inneren des ehemals sakralen Raumes und der Außenwelt. Er übersetzt den Blickwechsel zwischen dem Innen und Außen der Kapelle, der auf die Augen wie ein Sog hinaus in Richtung Himmel und Natur wirkt. Dabei konzentriert er sich auf das Chorfenster, das hinter dem Altar nach Osten zum „Licht der Welt“ orientiert ist. Der Blick hinaus in die Natur fällt auf einen über 100jährigen Mammutbaum [Sequoia gigantea].

Von diesem Wechselspiel inspiriert, hat Genc Mulliqi eine überdimensionierte Kopfskulptur aus Ton geformt, die er als Stellvertreter des Menschen begreift. Der Künstler hat bewusst an zentraler Stelle im Hinterkopf der Skulptur eine Miniatur dieses Chorfensters als Bindeglied zu weiteren ornamentalen Ausformungen in der Schädeldecke geschaffen. Damit deutet er an, dass die Wahrnehmung des Menschen aus dem inneren Raum in die Außenwelt keineswegs allein durch das Sehvermögen beeinflusst wird und vielfach sogar zu irrealen Wahrnehmungen und entsprechendem Handeln führt. So ist auch zu verstehen, dass in seiner Kopfskulptur die Darstellung der Augen fehlt.

Genc Mulliqi spielt vielmehr auf den Weitblick oder die Durchsicht des Menschen an, dass beides zumeist erst möglich wird nachdem das menschliche Auge gesättigt ist und das vordergründig Sichtbare in den Hintergrund tritt. Wagt der Mensch mit geschlossenen Augen Momente des Alleinseins, verdichtet sich der Raum zunehmend zur Innenschau. In diesen Momenten der Versenkung kann er klären, was Wesentlich ist und was von innen nach außen dringen soll, nunmehr übersetzt in neuen Bildern. Ein imaginäres Fenster zur Transzendenz inzwischen der Innen- und Außenwelt wird nun zur Schleuse an der die seelische Verarbeitung zwischen Licht und Schatten in Fluss kommt.

Mit dieser Idee überträgt Genc Mulliqi symbolisch das Chorfenster der Wintringer Kapelle als Zitat in seine Kopfskulptur. Durch dieses imaginäre Fenster kann der Mensch aus dem Inneren des Raumes seine scheinbar äußeren Spiegelwelten beschauen und in der Tiefe reflektieren. Dieses Fenster erlaubt im übertragenen Sinne aus der irdischen Befangenheit ins Unbegrenzte vorzustoßen.

Aus dieser Unbegrenztheit können – wie zufällig – ganz neue Bilder entstehen, sagt Genc Mulliqi. Unbewusst entstanden daher auch die Ornamente, die der Künstler in der Schädeldecke seiner Skulptur an das Fenster anknüpfen lässt. Diese Bildornamente lassen Raum zur Interpretation: sie möchten veranschaulichen, dass in jedem Menschen Bilder abgelegt sind, die jenseits von nachvollziehbarem Sinn liegen. Diese tief in unserem Inneren abgelegten Bilder können jedoch in einem künstlerischen Akt in sichtbare Bilder verwandelt werden und erlauben so dem Betrachter ganz neue Erkenntnisse.

Auf einer anderen Ebene möchte der Künstler mit seinem Werk auch die Beziehungen zwischen Mensch und Natur visuell verhandeln. Das Blickfeld durchs „Fenster“ hinaus in die Schönheit der Schöpfung, sieht er als Impuls zum Wandel. Genc Mulliqi versteht in diesem Blickwechsel einen Moment der Reflexion über die eigene Stellung zwischen sinnentleertem Konsum und weitsichtigem Denken zur Bewahrung dieser einzigartigen Biosphäre.

So ist in diesem Werk auch eine feinsinnige Methodik zu neuem Sehen präsent. Der Bezug zur Transzendenz, wie es sich die gotischen Baumeister mit ihrer Lichtmetaphorik durch die Fenstergestaltung erhofften in Verbindung mit dem nachhaltigen [guten] Leben ist sozusagen unausweichlich.

Biografie

Genc Mulliqi, 1966 geboren in Albanien, Studium an der Academy of Arts in Tirana, 1999 Master of Arts, London Wimbledon School of Art, lebt und arbeitet in Tirana/Albanien als Leiter der Bildhauerklasse an der Fakultät der Schönen Künste der Hochschule für Kunst in Tirana. Einzel- und Gruppenausstellungen in u.a. Albanien, Deutschland, Belgien und Großbritannien.

Genc Mulliqi war im Frühjahr 2020 Gastkünstler im KuBa – Kulturzentrum am EuroBahnhof e.V. Saarbrücken. Während seines Aufenthaltes besuchte er auch den KulturOrt Wintringer Kapelle. Nach einem Diskurs vor Ort entstand die hier beschriebene ortsbezogene Kopfskulptur in seinem Atelier im KuBa. Das Kulturzentrum am EuroBahnhof (KuBa) in der saarländischen Landeshauptstadt Saarbrücken ist Kooperationspartner des Projektes. Weitere Arbeiten des Künstlers werden dort im Jahresverlauf 2020 ausgestellt.

gmullici@yahoo.com
www.kuba-sb.de

Biografie in Englisch und Albanisch

Galerie von weiteren Werken