Das Kreuz im Nichts

Hermann Bigelmayr Das Kreuz im Nichts

Die Deutung der Zeichen und Symbole, die Hermann Bigelmayr seinem Werk „Das Kreuz im Nichts“ eingehaucht hat, fordert daher die Betrachter zur Schärfung des Sehvermögens und zur Bildmeditation. Im günstigen Fall wird man durch einen neuen [Durch-]Blick beschenkt. Ein Blick, der daran erinnert, dass wir letztlich – aus dem Nichts – in uns selbst, die Zutaten für den inneren Frieden entdecken, um den äußeren Frieden in einer erneuerten Wertegemeinschaft Hand in Hand mitgestalten zu können. Selbst dann, wenn die Hände im Gegenüber noch nicht ausgestreckt sind.

Peter Michael Lupp

Von den Grenzen des Wachstums zum Kreuz im Nichts

Seit 2011 steht der Ort mit einer Installation des Münchener Bildhauers Hermann Bigelmayr im Zeichen des Leitthemas „Die Grenzen des Wachstums“ (s. per annum MMXI ff.). Inhaltlich geht es um die Präsenz eines allgegenwärtigen Wahns nach Wachstum in unserer atemlosen Gesellschaft.

Vor dem Hintergrund, dass sich im gleichen Atemzug die Werte des christlichen Abendlandes wie Barmherzigkeit und Brüderlichkeit zunehmend verabschieden, rückt in den Fokus, wie es in einer globalisierten Welt gelingen könnte, unsere moralische Integrität zu retten. Das ist die eigentliche Kulturdebatte.

In diesem Kontext war Hermann Bigelmayr eingeladen zum Abschluss seiner fünfjährigen Prozessarbeit, die durch einen öffentlichen Diskurs und künstlerische Reflexionen am KulturOrt Wintringer Kapelle ergänzt und begleitet wurde, nun abermals ein Bildzeichen zu setzen. Seine künstlerische Antwort ist eine Installation, die den Titel „Das Kreuz im Nichts“ trägt und mit dem Ursprungswerk – einem überdimensionalen Weizenhalm, der durch ungebremstes Wachstum im Gewölbe der Kapelle zerbrochen ist – in Resonanz tritt.

Das Kreuz im Nichts

Gegenüber im zugemauerten Westportal des sakral geprägten Raumes gibt sich die Installation auf den ersten Blick als zwei leuchtend goldene Quadrate zu erkennen, die trotz ihrer zurückgenommen Gestik zum essenziellen Bedeutungsträger werden kann. In der Suchbewegung nach tragfähigen ethischen und spirituellen Werten lädt das Werk zur Deutung ein und darf durchaus metaphorisch gelesen werden.

Zur Entstehung der Bildkomposition

Der experimentierfreudige Bildhauer folgt immer wieder auch dem Ruf der Kirche, die seine Schaffenskraft im religiösen Umfeld von Sakralbauten zur Geltung bringen möchte. So gesehen sind ihm künstlerische Interpretationen des Kreuzes als urchristliches Symbol nicht fremd. Der Ursprung einer Serie von Werken mit dem Titel „Das Kreuz im Nichts“ – die jeweils ortsbezogen entstehen – basiert aus den Kontroversen, die sich im Rahmen eines Auftrages zur Gestaltung einer Kreuzinstallation für den neuen Friedhof in München-Riem, der im Jahr 2000 von dem renommierten Architekten Andreas Meck entworfen wurde, entstanden sind. Dort wurde Bigelmayr noch während dem Gestaltungsprozess damit konfrontiert die klassische Kreuzinterpretation für ein künstlerisches Werk auf der Friedhofanlage so zu erweitern, dass der Ort auch für Bestattungen aus anderen Glaubensüberzeugungen geöffnet werden kann.

Nach einigen Überlegungen bediente sich der Künstler zur Lösung der Interessenskollision einer übergeordneten Verständigungsebene. Im Außenbereich des Friedhofes entstand eine neun Meter hohe Skulptur aus vier mächtigen, über einem Quadrat angeordneten Eichenstämmen. Oben auf ruht ein mächtiger Quadratstein, der die vier Pole förmlich von oben erdet, so als wolle er die überschaubaren, irdischen, menschlichen Lebenswelten zusammenhalten. Nur jenen, die sich dem Werk von innen nähern und den Blick nach oben richten, erlauben die Augen eine Schärfung des Anblicks. Für manche gibt sich die Struktur eines Kreuzes zu erkennen, für andere bleibt das Symbol verborgen – im Nichts.

Das Kreuz im Nichts

Für den Innenbereich der benachbarten Friedhofskapelle bediente sich Bigelmayr einer ebenso einfachen, aber nicht weniger klärenden Metapher: das unbeschriebene Blatt. Die zweifache Faltung eines unbeschriebenen Blattes Papier über die Mittelachse, teilt das Blatt haptisch in vier weitere Quadrate. Erst in der Entfaltung des Blattes erheben sich Linien, die sich über dem Mittelpunkt überschneiden. Haptisch tritt nun ein markantes Zeichen hervor, das bereits seit vorchristlicher Zeit eine religiöse Weltformel zum Ausdruck verhelfen will: ein Kreuz. Wählt man zudem noch Papier mit hoher Grammatur entsteht bei Öffnung der Faltung, unmittelbar neben dem Schnittpunkt, ein kleines Dreieck. Dieses überaus feine Bild der Verbindung von vier gegenüberliegenden Kardinalpunkten, die scheinbar aus dem Nichts entstehen – oder sich im Umkehrschub darin auflösen – artikulierte der Bildhauer in bekannt feiner Handschrift in zwei quadratische Holzreliefs zum Kreuz im Nichts.

Die Aura des göttlich Übersinnigen und Jenseitigen haucht der Künstler dem Werk schließlich in traditioneller Art und Weise mit feinsten Blättern aus reinem Gold ein, mit denen er seine Holzreliefs, die er über dutzenden von sorgfältig angelegten Kreideschichten belegt und zum Glanz verholfen hat.

Hermann Bigelmayr schuf mit seinem künstlerischen Kommentar vor Ort Orientierungssymbole von interreligiöser Natur, die unterschiedlichste Wahrnehmungen zulassen, ohne die maßgebliche kulturelle und religiöse Prägung der Landschaft, in welcher der Bestattungsort eingebettet ist, aus dem Blickfeld zu entlassen. Entstanden ist sozusagen eine Matrix ethischer Grundsymbolik, bei der es sich lohnt, sie lange zu betrachten und zu analysieren.

Näheres Hinsehen und Erforschen lohnt sich also. Bigelmayrs ikonisches Nichts im goldenen Quadrat im Dialog mit einem Kreuz, das sich zu entfalten scheint, lässt sich in einer analytischen Betrachtungsweise wie eine Epochensymbolik lesen. In einer aus den Fugen geratenen Welt markiert sie Akkupunkturpunkte für eine die Kulturen übergreifenden, ethischen Basis.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die geniale künstlerische Antwort zur Lösung des Konflikts – Das Kreuz im Nichts – nach der Umsetzung vor Ort zu einer kontroversen kulturpolitischen Debatte in Oberbayern geführt hat.

www.hermannbigelmayr.de Das Kreuz im Nichts

„Das Kreuz im Nichts“ am KulturOrt Wintringer Kapelle

Hermann Bigelmayrs Installation „Die Grenzen des Wachstums“ und der zugehörige öffentliche Diskurs schärfen seit 2011 am KulturOrt Wintringer Kapelle das Bewusstsein für die kontinuierliche Überschreitung der ökologischen Grenzen dieses Planeten. Doch wo sind die Auslöser dafür, dass die Menschen durch unreflektiertes Wachstumsdenken letztlich die Grundlagen ihrer Existenz zerstören? Wie lässt sich die gefühlte Erkenntnis ins Handeln überführen? Liegen die Antriebsfedern und die Ursprünge des weltweiten Wachstumsdiktats möglicherweise unlösbar im tiefsten Inneren der Menschheit, da wo sich Werte bilden und prägen, verborgen?

In diesem lückenhaften Erklärungsmosaik ergaben sich für den Künstler am KulturOrt Wintringer Kapelle Bezugspunkte zu seinen vorherigen Arbeiten. Eine ortsbezogene Anfertigung der beiden Wandreliefs „Das Kreuz im Nichts“, als Deutungsträger für eine adäquate Auseinandersetzung, wurde zur künstlerischen Strategie der Wahl.

Bigelmayrs „Kreuz im Nichts“ bietet also ein bildnerisches Pendant zur Symbolik tradierter religiöser Weltanschauungen, ohne zu vergessen uns den Spiegel vorzuhalten.

Bewusst hängen die beiden quadratischen Reliefs daher wie Ikonen vor dem zugemauerten Portal, das scheinbar keinen Durchbruch erlauben will. Unmittelbar davor eine Landschaft, die sich dem europäischen Miteinander in der deutsch-französischen Beziehung im Rahmen eines Eurodistrictes gewidmet hat und zugleich als Biosphärenreservat für nachhaltige Lebensformen wirbt. Doch nicht viel weiter vor den Portalen Europas erschüttern Kriege und Krisen ganze Staatensysteme und Weltreligionen. Die eigentlichen Brandstifter lassen sich vielfach nicht ermitteln, aber der Brandherd lodert und vertreibt. Der Blick auf das Weltgefüge ist von nicht enden wollenden Strömen vertriebener Menschen bestimmt.

Mit Unbehagen drängen Fragen auch hierzulande, inwieweit religiöse Glaubenssätze dafür eine Mitverantwortung haben, bergen sie doch mitunter auch die Verherrlichung von Gewalt in sich. Die Symptomatik der „Entfriedung“ pocht unaufhörlich lauter, doch warum fehlt den etablierten Kulturen und ihren Religionen die weltversöhnende Substanz?

Macht es nicht auch insbesondere der Auftrag der UNESCO-Biosphären­reservate zur übergeordneten Pflicht, die regionale Forschung zu den ethischen Grundlagen des nachhaltigen und friedlichen Zusammenlebens zwischen Mensche untereinander und im Einklang der Natur intensiv voranzutreiben? Stehen nicht im Friedensprojekt Europa die interkulturellen und interreligiösen Konzepte für eine versöhnende Ethik an erster Stelle?

Dies sind die Fragen, die durch das „Das Kreuz im Nichts“ am KulturOrt Wintringer Kapelle ins Blickfeld geraten. Möge die Sichtung bei den Betrachtern schöpferische Impulse auslösen – hin zu eigenverantwortlichen Reflexionen, welche persönlichen Zutaten zu einer versöhnenden Ethik geleistet werden können. Manche möchten jedoch dabei sicherlich lieber niederknien, um auszublenden.

Bildsprache – Von Zeichen und Symbolen

Die komplexe Kulturgeschichte der religiösen und ethischen Weiterentwicklung der Menschheit und ihre jeweiligen Auswirkungen auf den inneren und äußeren Frieden, auf Einigung oder Entzweiung, auf Zerfall oder Zukunft belegen, dass sich Moralität und Ethik nicht verordnen lassen. Beides basiert jedoch im Kern auf Wirkungszusammenhängen, die in den philosophischen Weltanschauungen der Menschheit bereits sehr früh erkannt wurden. Diese weisen auf lebensnahe Möglichkeiten hin, wie sich das Menschsein mittels eines fantasievollen Bewusstsein von festgefahrenem Denken und einer materialistischen Gesinnung herauslösen kann.

Zeichen und Symbole

Bereits Konfuzius wusste, dass weder Worte noch Gesetze, sondern letztlich Zeichen und Symbole die Welt beherrschen. Anerkanntermaßen lassen sich ihre Wirkung als eigenständige Form der nonverbalen Kommunikation beschreiben, die zudem unmittelbar einen Dialog mit dem Unterbewusstsein auszulösen vermag. Symbole und ihre kulturgeschichtlich fundamentierten Bedeutungskategorien senden einen Impuls an das Unbewusste und regen die Willensbildung an.

Diese Aspekte können mittels der Bildsprache des Werkes von Hermann Bigelmayr verdeutlicht werden. Die Symbolkraft der von ihm gewählten Zeichen wirken so stark, dass er sich für sein bildhauerisches Arbeiten auf ein fundamental reduzierendes Ausdrucksformat beschränkt. Auf diese Art und Weise vermitteln sich die einzelnen Themen wie übereinandergelegte Schichten, deren jeweilige Bedeutung sich zu einem Wirkungsfeld verweben lassen. Für die Betrachter eröffnen sich im bewussten Dialog zwischen Bildsprache und Symptomatik nachvollziehbare philosophische „Forschungsthemen“, deren Ergebnisse – und seien sie auch noch so unscheinbar – in den realen Lebenswirklichkeiten zur Anwendung kommen können.

Die folgende „Leseanleitung“ bietet eine Möglichkeit das Werk bei näherer Betrachtung in seinen Tiefenschichten zu öffnen, um über diesen kunstdidaktischen Zugang die Denk- und Handlungsrepertoires der Betrachter zu erweitern. Eine vorerst isolierte Betrachtung der Bedeutung der einzelnen Symbole im Kontext des Ortes und seinen Fragen erleichtert diesen Vorgang.

Das Kreuz

Das Kreuz

Wie sich kreuzende Zeitlinien entfalten sich, in der zuvor beschriebenen Vorgehensweise des Künstlers, die Konturen auf dem rechten Quadrat zu einem Kreuzrelief, fast so, als wäre das Kreuz des Christentums (das sich erst 431 n. Chr. offiziell als christliches Zeichen etabliert hat) noch einmal in die Welt der mittelalterlichen Prioratskirche in Wintringen mit seinen Vorstellungen von Apokalypse, Vertreibung aus dem Paradies, Jüngstem Gericht und Hoffnungsspiralen nach dem Seelenheil zurückgekehrt.

Offenbar ist es Hermann Bigelmayr jedoch auch daran gelegen, eine Deutung des Kreuzes in anderen kulturellen Kontexten zu gewährleisten um damit erweiterte Rückschlüsse für die Betrachter zu ermöglichen. Die vertikale Linie wird beispielsweise mit dem aufrechten Gang des Menschen und damit mit der Aufrichtigkeit oder der Geradlinigkeit in Verbindung gebracht. So erklärt sich auch die Deutung als Wirbelsäule, Weltachse oder der Baum des Lebens.

Demgegenüber steht die Horizontale für den Anfang und das Ende und damit den Weg der Erkenntnis von der Geburt zum Tod. Erkenntnis wird jedoch auf dieser Linie nur derjenige erlangen, der sich aktiv um die Versöhnung der Gegensätze bemüht, vermittelt zwischen den Polaritäten etwa Gut und Böse, männlich und weiblich. Bereits in der Symbolsprache der vorchristlichen Zeit wird das Kreuz in Verbindung der Sphären gelesen: die Horizontallinie steht für das Irdische und in der Vertikallinie für den Pfad vom Irdischen zum Himmlischen. Doch erst die Verbindung der Linien über die Mitte bewirkt die Begegnung und die synergetische Verbindung der beiden Sphären Himmel und Erde. Durch die symmetrische Überschneidung der Linien zum Kreuz wird eine Fläche, wie Bigelmayrs unbeschriebenes Blatt, in vier gleich große Segmente, die sowohl auf die vier Elemente, als auch die Bindung von Geist und Materie im Menschen hindeuten.

Die Trennungslinien richten sich zudem auf die vier Himmelsrichtungen aus. In der Verbindung mit einem Kreis lässt sich der Sonnenverlauf durch die vier Jahreszeiten und letztlich auch das Ganzheitliche aus dieser Symbolik herauslesen.

Quelle: www.wikipedia.org
Literatur: Sebastian Anneser, Friedrich Fahr, Peter Steiner: Kreuze und Kruzifix – Zeichen und Bild

Essenz: Im aufrechten Gang richtet sich der Blick auf die Versöhnung der Gegensätze. Vergehen um zu Werden.

Das Dreieck

Das Dreieck

Im Schnittpunkt der Kreuzlinien entsteht, wie bereits beschrieben, ein kleines Dreieck – ein tiefsinniges meditatives Symbol – das der Künstler markant hervorhebt.

Das gleichschenklige Dreieck erlaubt als Bedeutungsträger unterschiedlichste Interpretationen. In der christlichen Kunst wird es als das alles wahrnehmende Auge Gottes definiert, gleichfalls als Symbol für die Dreifaltigkeit von Gott Vater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist. Das nach unten gerichtete Dreieck gehört zudem zu den ältesten Symbolen, die das Weibliche im Menschsein beschreibt, das mitunter die Güte, das Mitgefühl, die Fürsorge impliziert. In der anthroposophischen Philosophie umschreiben Symbole Wirklichkeiten, die sich als bestehende Dimension in der Weltenschöpfung erleben lassen. Mit einem Dreieck als symbolische Form wird beispielsweise eine Wirklichkeit beschrieben, die auch in der geistigen Schöpfung vorhanden ist, es erinnert die Seele an die Dreiheit der geistigen Welten: Seelenleben, Materie, Geist. Das gleichschenklige Dreieck impliziert hier eine existentielle Anforderung, die das Leben an das Menschsein richtet: die Ausgewogenheit und der Ausgleich.

Quelle: www.wikipedia.org
Literatur: Lexikon der christlichen Ikonografie, Rom 1994

Essenz: Nur im gleichseitigen, wertschätzenden, toleranten Zusammenspiel ist eine die Kulturen verbindende Ausrichtung des individuellen Daseins und des übergeordneten Weltengefüges möglich.

Das Nichts

Das Nichts

Gegenüber im linken Quadratrelief tritt vor dem vermauerten Westportal das Nichts in Erscheinung. Das Quadrat zeigt offensichtlich keine Spuren einer künstlerischen Bearbeitung, mit Ausnahme des Blattgoldes mit der das unbearbeitete Holzquadrat belegt wurde. Bigelmayr rückt bewusst die Abwesenheit von künstlerischer Einwirkung, die unbestimmte Leere auf dem Quadrat als Gegenüber der bildhauerisch eingehauchten Symbolkraft seines Kreuzreliefs und unterstreicht mithin die Wechselwirkung. Die scheinbare Abwesenheit von künstlerischer Bearbeitung wird zum Ausdrucksformat einer existentiellen Erfahrung mit dem Nichts, ohne dessen Voraussetzung ein neues Denken im Sinne von schöpferischem (Zusammen-)Wirken im Weltenkreis des blauen Planeten nicht möglich ist. In der französischen Sprache gibt es dazu das Wort „néant“. Das was nicht ist, aber sein kann.

In dieser Möglichkeit zu einem geistigen „Reset“ ins Nichts zur unvermeidlichen Leere als conditio für das heilsam Neue, schimmern die philosophischen Interpretationen der Spätantike und des frühen Mittelalters durch. Nach Augustin kann die Entstehung der Schöpfung nur unter der Voraussetzung eines vorherigen Nichts ihren Lauf genommen haben, alles andere wäre im Umkehrschluss keine Schöpfung sondern stetige Umwandlung. In der Geschichte der Philosophie nimmt die Beleuchtung der Möglichkeit des Nichts quer durch die Zeiten eine zentrale Rolle ein.

In einem anderen Kontext lässt sich das von Bigelmayr an die Wand zitierte Nichts zum Beispiel auch über die Lehren Hegels und Blochs lesen. Hegel stellt das Nichts mit dem Sein auf eine Stufe und lässt beides ineinander übergehen, um so den Vorgang des Werdens zu begründen. Nach Bloch erlebt der Mensch im Nichts einen Mangel, den er intuitiv versucht aufzuheben. Darin erkennt Bloch eine Grundkonstante im Wesen der Menschheit, ein Streben nach Überwindung, letztlich das Prinzip Hoffnung.

Literatur: UTB Handwörterbuch Philosophie; Henning Grenz: Die Entdeckung des Nichts, Hamburg 1999

Essenz: Bewusstes Sein, Verstehen als Verwandlung und Werden entfalten sich über Leerstellen im Geist (Meditation ins Nichts).

Das Gold

Das Gold

Gold steht in allen Weltreligionen für das Göttliche, das Helle des Lebens, das Wertvolle und wertspendende religiöse Grundprinzip, das trotz aller Einflussnahme durch die Menschheit das Göttliche – die höhere Macht – bleibt. Gold wird mit Reinheit, Weisheit, dem Heiligen schlechthin in Verbindung gebracht. In der Alchemie des Mittelalters stand Gold für erstarrtes Licht, für die Erlangung des Zentrums, das Gleichgewicht zwischen den Polen. In der anthroposophischen Medizin wurde es als Aurum metallicum zur Stabilisierung des Wesengliedergefüges, bei Erschöpfung und Stoffwechselschwäche eingesetzt.

Um diese Stabilisierung des Gefüges im menschlichen Dasein und Miteinander zwischen Mensch und Natur scheint es Hermann Bigelmayr zu gehen und er verordnet folgerichtig Gold in homöopathischer Blattgolddosierung über sprichwörtlich vielschichtigen künstlerischen Kommentar.

Mit der abschließenden Vergoldung der beiden Reliefs wird aber letztlich der Wirkungszusammenhang zwischen Ethik und der menschlichen Natur auf die Goldwaage gelegt und lässt eine der Ursachen erahnen, warum sie partout nicht ins Lot kommen will. Das menschliche Zusammenleben leidet in der Gegenwart unter einer schweren Erkrankung, die vielfach noch gar nicht diagnostiziert wurde – die Gleichgültigkeit. Diese ist auf einen Mangelzustand an Empathie zurückzuführen. Sich dagegen aufzulehnen ist ein höchst persönlicher Akt, kein aggressiver, ein selbstbestimmter und nicht fremdbestimmter, und liefert mit jedem Gramm mehr einen Schritt zum überlebensnotwendigen Gleichgewicht auf dieser Erde.

Literatur: Lexikon der christlichen Ikonografie, Rom 1994

Essenz: Das Heilige entsteht in der Empathie, die den Ausgleich zwischen den Polaritäten sucht.

Wintringer Kapelle

Epilog

Die Deutung der Zeichen und Symbole, die Hermann Bigelmayr seinem Werk „Das Kreuz im Nichts“ eingehaucht hat, fordert daher die Betrachter zur Schärfung des Sehvermögens und zur Bildmeditation. Im günstigen Fall wird man durch einen neuen [Durch-]Blick beschenkt. Ein Blick, der daran erinnert, dass wir letztlich – aus dem Nichts – in uns selbst, die Zutaten für den inneren Frieden entdecken, um den äußeren Frieden in einer erneuerten Wertegemeinschaft Hand in Hand mitgestalten zu können. Selbst dann, wenn die Hände im Gegenüber noch nicht ausgestreckt sind.

Eine Bereitschaft zum Händereichen und gleichfalls, sich mit den Zeichen unserer Zeit auseinanderzusetzen, um unsere Lebenswelten mit einer Poesie des Herzens aktiv zu gestalten, anstatt sich wegzuducken, wäre eine gut erlernbare Ouvertüre. Werke wie „Das Kreuz im Nichts“ können dabei helfen.

Sind sie doch in der Lage, die Bausteine einer versöhnenden Ethik – nennen wir es „Das Göttliche hinter dem Nichts“ – zu erkennen und sie wie Samenkörner auf einem brachliegenden Acker zu verstreuen.

Wintringer Kapelle Marie Colombat – Cello

Impressionen der Auftaktveranstaltung zum Themenjahr: Marie Colombat reflektierte die Bildsprache musikalisch auf dem Cello.