Die sieben Tod­sünden

Die spätgotischen Wasserschlagfiguren der Wintringer Kapelle im Spiegel von 8 Tafelbildern des Malers Nikola Dimitrov

Urbild...

Für die Veranstaltung „Hibernus“ am KulturOrt Wintringer Kapelle im November 2004 malte Nikola Dimitrov in Auseinandersetzung mit den allegorischen Wasserschlagfiguren acht Tafelbilder zum Thema der Sieben Todsünden. In seiner Deutung verknüpfte er die Laster, die den Menschen von Gott und dem eigenen Seelenweg entfernen, mit der auch der mittelalterlichen Ideenwelt vertrauten Symbolik der Planeten. Seit der Antike repräsentieren die Planeten innere und äußere Kräfte, welche die Entwicklung des Menschen unter einen Spannungsbogen von Licht und Schatten stellen. In der Polarität von Gut und Böse, zwischen Himmel und Erde, Aufstieg und Fall ordnen sich die Todsünden als Extreme psychischer Möglichkeiten ein; auch die achte Figur des Engels wird zu einer mehrdeutigen Gestalt als Lichtträger und Diener der Dunkelheit. In den acht pfeilerähnlichen, an die gotische Architektur angelehnten Tafelbildern entfaltet Dimitrov mit Hilfe einer auf Farbräumen aufbauenden Bildsprache ein symbolisches Universum menschlicher Individualität. Er schuf damit einen zeitgemäßen Spiegel der Selbsterkenntnis, der sich sowohl der Tradition des „Memento mori“ wie der Vision einer ganzheitlichen Menschwerdung verpflichtet fühlt.

Ausstellungsbesucher betrachten im Inneren der Kapelle angestrahlte Kunstwerke an den Wänden

Ausstellungseröffnung am 21. November 2004 in der Wintringer Kapelle

... und Nachklang

Die im Dialog mit den Wasserschlagfiguren gemalten 8 Bildtafeln der Sieben Todsünden waren inspirierender Ausgangspunkt einer künstlerischen Metamorphose. In einem zweijährigen Prozess wuchs ein räumliches wie symbolisches Wirkungsfeld um den KulturOrt Wintringer Kapelle, das Menschen, Orte und Künste verschiedener Disziplinen mit dem Genius loci in fortwirkende Resonanz brachte.

Das wachsende Netz

Das wachsende Netz: Wintringer Kapelle, Kleinblittersdorf, zwei Stationen in Saarbrücken, Alte Tabakfabrik Heusweiler im Stadtverband, St. Wendel, Sulzbach und Trier.

Die Metamorphose der Sieben Todsün­den

1. Die 100 kleinen Sünden

Für einen Beitrag zur Erhaltung des KulturOrtes schuf Nikola Dimitrov 2004 100 „Kleine Sünden“. Die 100 handsignierten Miniaturen, im gotischen Format in exakter Proportion gearbeitet, entstanden aus der Leinwand, die er in der Annäherung an sein Thema in der der Symbolik der Sonne/Löwe zugeordneten Farben bemalt hatte. Dieses Urbild wurde in 100 Streifen geteilt, die dann einzeln in ganz individuellen Mischungen der Todsünden-Farben übermalt wurden. Dieses differenzierte Sünden-Mosaik ließ den Betrachter seinen eigenen Sündenspiegel entdecken.

Auswahl Miniaturen der kleinen Sünden

Auswahl Miniaturen der kleinen Sünden, 34 x 4,4 cm auf Büttenpapier, Pigment, Bindemittel, Lösungsmittel auf Leinwand

2. Die Sieben Todsünden in der Hospitalkapelle Sankt Wendel

Die für den gotischen Sakralraum geschaffenen 5,80 Meter hohen Bildtafeln übersteigen übliche Raumdimensionen. Nikola Dimitrov malte daher Anfang 2005 in proportionaler Verkleinerung acht neue Bilder im gleichen Habitus und ähnlicher Farbgebung, erneut im sakralen Umfeld in der Apsis der Kapelle des Hospital St. Wendel.

Nikola Dimitrov malte direkt vor Publikum, musikalisch begleitet von Bernd Mathias am Klavier und Stefan Scheib am Bass. Durch die Live-Kompositionen erhielt diese zweite malerische Interpretation eine eigene Tiefe. Nikola Dimitrov malte unter dem Eindruck von der Symbolik der Wasserschlagfiguren in Kombination mit 8 musikalischen Leitthemen, die die dunkle und die helle Seite der Planetensymbolik mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Musik in 18 Klangbildern beleuchteten. Dieser zweite Bildzyklus, seit 2007 mit 4 Bildtafeln in Besitz der Saarbrücker Winterbergkliniken, trägt den Geist der Besinnung und kontemplativen Selbstfindung an diesen emotional schwierigen Ort.

Die sieben Todsünden

Die Sieben Todsünden / Acryl und Pigment auf Leinwand, 2005, 250 x 30 cm

3. Die Sieben Todsünden als Nachklang für die Ausstellung in Kleinblittersdorf

2005 kehrten die Todsünden an das mundane Zentrum ihres Ursprungsortes zurück: Für eine Ausstellung im Rathaus von Kleinblittersdorf malte Nikola Dimitrov einen zweiten Bildzyklus im verkleinerten Format. Die Bildsäulen standen in Korrespondenz zu fotografischen Schwarzweiß-Abbildungen der Wasserschlagfiguren und stellten ein das Originalwerk reflektierendes künstlerisches Abbild dar. Ziel war zugleich eine bewegliche Installation der Sieben Todsünden, die ubiquitär gezeigt werden konnte.

Diese erneute malerische Interpretation ließ bereits andere Ausdrucksnuancen in dem durch die Farbkompositionen gebildeten achtteiligen Psychogramm aufscheinen. Die acht Bildtafeln befinden sich im Eigentum der Evonik Services GmbH in Saarbrücken und konfrontieren an ihrem Standort das kommerzielle Umfeld des Unternehmens mit dem spirituellen Wertekodex.

Die sieben Todsünden

Die Sieben Todsünden / Acryl und Pigment auf Leinwand, 2005, 250 x 30 cm
Fotos der 8 Wasserschlagfiguren / Print auf Leinwand, 30 x 30 cm

4. Der Zyklus der Sieben Todsünden als kreativer Akt in der Tuchfabrik Trier

In einem kreativen Akt veränderte Nikola Dimitrov 2006 in einem Livepainting in der Tufa Trier dann Format und Konzeption. Die acht Bilder wuchsen aus der extremen Vertikale in ein breiteres, stärker erdendes Format. Gleichzeitig löste er die feste, den Positionen der Wasserschlagfiguren folgende Reihung zugunsten einer freien, wechselnden Bildfolge auf – ein Schritt, der im baulich bedingten Platzwechsel der Wasserschlagfiguren auf den Außenpfeilern in situ schon vorgezeichnet war.

Durch variable Kombinationen konnten nun unterschiedliche Gesamtbilder kreiert werden, die den mittelalterlichen Sündenkanon neu ordneten und gewichteten. Die überraschenden Wirkungen führten zu neuen Interpretationsansätzen. Unterstützt durch die expressivere, disharmonischere Farbraumgestaltung signalisierten die neuen Gestaltungsfreiheit das Verlassen des traditionellen religiösen Moralkontextes. Die formale Offenheit reagierte auf das in der Zeit gewandelte Wertesystem.

Die sieben Todsünden

Die Sieben Todsünden / Acryl und Pigment auf Leinwand, 2006, 250 x 50 cm

5. Zeitgemäße Synthese des strengen, hierarchi­schen Wertesystems

Am Tag der Bildenden Kunst 2006 wurden die Sieben Todsünden im Atelier in der Alten Tabakfabrik in einem weiteren Livepainting mit Musik erstmals in einem einzigen Bild vereint. Das kreative Umfeld des Ateliers und die Freiheit der musikalischen Improvisationen begleiteten den Schritt zu einer zeitgemäßen Synthese des strengen, hierarchischen Wertesystems. Die Einheit des Bildes und die Integration der Teilaspekte wurde formal nachvollzogen im quadratischen Format mit der Maßzahl 1. Das Quadrat als Sinnbild der Materie bildete zugleich den Gegenpol der auf das Göttliche und den Himmel ausgerichteten Vertikale des ursprünglichen „gotischen“ Formates.

Erstmals wurde hier auch die Symbolik der Wasserschlagfiguren direkt ins Bild integriert. Als schwarzes, an Bilderschriften erinnerndes Zeichenband bildeten sie im Zentrum der Leinwand den kompositorischen Anfang. Farbsäulen im wässrigen, spontanen Auftrag erhoben sich über sie und überlagerten sie, bis die Relikte der mittelalterlichen Signatur schließlich ganz an den linken Rand gedrängt waren. Eine dynamische, nach allen Seiten ausgreifende Bewegung verwischte und vermischte die strenge Farbenordnung der Sünden in einer mächtigen, über das Bild fegenden Farbwelle, die auch bereits die rechts noch sichtbaren Pfeiler der Werte-Ordnung berührt.

Die sieben Todsünden

Die Sieben Todsünden / Acryl und Pigment auf Leinwand, 2006, 170 x 180 cm

6. Konzentration und Auflösung

Den Schlusspunkt bildete 2006 dann die Konzentration und Auflösung des Themas in einem in die Horizontale gewachsenen Bild. Assoziativ stehen sich hier die Welt der Wasserschlagfiguren und die Farbgebung des Wintringer Systems in emotionaler Gestik gegenüber. Die dunklen grafischen Symbole der allegorischen Skulpturen bilden die Basis. Aus der Höhe des Bildraums entfalten sich fließend, leuchtend und kraftvoll die acht Farbsäulen; sie bilden den neuen Überbau und nur noch an wenigen Stellen, an denen sie nach unten zerfließen stehen sie in Verbindung mit der kryptischen Symbolik der in den Figuren verdichteten Deutungsvielfalt.

Dieses Livepainting fand statt in der Galerie Beck in Homburg anlässlich der Präsentation der Dokumentation mit einer Audio-CD des ersten Malevents in der Kapelle des Hospitals in St. Wendel. Thematisch wie formal schloss sich damit ein Kreis der Entwicklung.

Die sieben Todsünden

Die sieben Todsünden / Acryl und Pigment auf Leinwand, 2006, 200 x 220 cm

Die Sieben Todsün­den im Dialog der Künste

1. Spätmittelalterliche Skulpturen im Spiegel moderner Malerei

Die acht spätgotischen Wasserschlagfiguren auf den äußeren Strebepfeilern waren der Ausgangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung unter Beteiligung mehrerer Künste. Die vor 600 Jahren von einem unbekannten Künstler aus dem Sandstein gearbeiteten Plastiken gehören zu den bedeutendsten Relikte der Kirchengeschichte unserer Region. Sie werden gedeutet als allegorische Darstellungen der sieben Todsünden und eines Engels.

Mit der figürlichen Darstellung typisierender Eigenschaften und Verhaltensweisen führte die mittelalterliche Symbolsprache auf dem Weg über die Gegenständlichkeit in die Abstraktion. Nikola Dimitrov beschreitet in seiner Interpretation den umgekehrten Weg. In der Negation jeder abbildenden Funktion zugunsten einer puristischen Abstraktion nutzt er allein die emotionale Ausdruckskraft der Farben, um das Thema zu durchleuchten.Seine Gestaltungsmittel sind das Format der Leinwand, die Emotionsräume der Farbkompositionen und der plastische Charakter des Farbauftrags in Verbindung mit der Imaginationskraft der Bildtitel.

Die acht Tafelbilder malte Nikola Dimitrov in seinem Atelier. Er verwendete reines Pigment von hoher Leuchtkraft für seine großflächigen freien Farbschöpfungen. In lasierender Technik schichtete er die Farben zu einem sorgfältig gewählten Zusammenklang. Raumbildung gelang durch den Kontrast stumpfer gegenüber schimmernden, kompakter gegenüber hauchzarten Passagen.

Seine Verlauftechnik durch Muldenbildung in der locker gespannten Leinwand ließ Farblandschaften entstehen, die in sich fließend, mutierend und bewegt erscheinen. Bis in den Trocknungsprozess wahrten die Farben Eigenleben: Relief-, Haut- und Rissbildungen, aber auch körperhafte Gebilde entstanden durch das eigenständige Weiterwachsen der sich sammelnden Farben. Faszinierende Farbverläufe, subtilste Abstufungen und räumliche Effekte geben den hochformatigen Tafelbildern eine sehr lebendige, tiefgründige Sprache.

Völlerei

Tafelbild Völlerei hier mit einer Detailaufnahme

2. Wandlungsimpulse durch den Dialog zwischen Musik und Malerei

Den Weg aus den Mauern des KulturOrtes heraus begleitete die Musik als die inspirierende Quelle einer allmählichen Transformation. In Livepaintings malte Nikola Dimitrov im Zwiegespräch mit minimalistischen Impressionen und Jazzvariationen von Bernd Mathias am Klavier und Stefan Scheib am Bass. Die Stein gewordene Bildwelt der Spätgotik wie die Visualisierung mit den Mitteln der modernen Malerei stand nun im Kontrast zu der nur hörbaren Welt der Klänge.

Zeitliche Abfolge, Rhythmik und die Variationsfülle der Musik brachten eine in die Bewegung drängende Dynamik in die meditative, ruhende Bildlichkeit. Das Herausgehen aus der Stille der Wintringer Kapelle und der Kontemplation des Ateliers in den direkten Kontakt mit dem Publikum holte die Todsünden-Thematik ins Hier und Jetzt.

Eventcharakter und enger Zeitrahmen förderten eine spontane, expressive und zugleich linear reduzierte Malerei.Das Livepainting legte so von Anfang an den Keim zur kreativen Veränderung.

Bilder vom Livepainting: Akteure Musik und prozesshafter Nachvollzug der Bildentstehung

Livepainting

Livepainting in der Hospitalkapelle Sankt Wendel, 2005

3. Mehrfachspiegelungen in Abbildern des Abbildes

In der fruchtbaren Begegnung verschiedener Künste erweiterte jede künstlerische Aussage die vorangegangene Sicht und brachte neue Aspekte ins Spiel. An jedem Ort wurde eine neue Reflektionsebene in das Interpretationsgewebe integriert, so dass in mehrfach gespiegelte Abbildungen entstanden.

Eidechse – Neid

Abbildungen eines Sündenthemas in Relation zueinander (hier die Eidechse – Neid) quer durch die verschiedenen künstlerischen Gestaltungen (bei 5 und 6 sind es Ausschnitte aus den Einzelbildern von 2006)

Den Anfang machten die beweglichen Gipsproduktionen der Wasserschlagfiguren, die unabhängig von der Baulichkeit und der erhöhten Position außen auf dem Gebäude die intensive Auseinandersetzung mit der plastischen und gestischen Figürlichkeit ermöglichten. Sie waren daher auch Teil der Installation im Innenraum der Kapelle.

Schwarz-Weiß-Fotografien der Skulpturen, denen der unmittelbare gebärdenhafte Ausdruck des plastischen Materials fehlte, zeichneten ein kontrastreiches, von Licht und Schatten geprägtes Bild. Sie ebneten den Weg in die Zweidimensionalität und Polarität der Malerei. In Form kolorierter Collagen auf Papier halfen sie bei der ersten Weiterentwicklung vom Urmaterial.

Die Sieben Todsünden

Die Sieben Todsünden / Acryl, Collage auf Papier, 2005, 66 x 46 cm
Hochmut, Trägheit, Neid, Wolllust, Zorn, Völlerei, Geiz und der Engel

Fotos der Wasserschlagfiguren und der verkleinerte Todsündenzyklus schufen ein komplettes ortsunabhängiges Abbild der Hibernus – Ausstellung im KulturOrt

Die filmische Dokumentation der Livepaintings ermöglichte die kreative Weiterverarbeitung auf der Grundlage der optischen und visuellen Konservierung.

4. Das Entwicklungs­potenzial eines offenen Prozesses

Der künstlerische Nachklang der Sieben Todsünden setzte ein vielstufiges, sich gegenseitig beeinflussendes Reflektionssystem in Szene, das weiter geführt und um neue künstlerische Ausdrucksmedien ergänzt werden kann – um die Ebene des Wortes oder des Liedes beispielsweise, wie dies bereits mit den gesanglichen Kommentierungen des Countertenors Ralf Peter während der Vernissage erprobt wurde.

Auch die Resonanz in anderen Räumen war und ist ein mögliches Thema. Nicht zuletzt harren die übergroßen Bildtafeln der „Ur“-Todsünden auf ihre erneute oder endgültige Ausstellung in geeignet dimensionierten Räumen, in denen sie ihre meditative Eindringlichkeit in der Kommunikation mit den Menschen entfalten können.

Die Vision eines Bildzyklus, der die Entwicklung eines neuen Wertesystems visualisiert

Die 8 Bildzyklen, die bereits entstanden sind, ordnet Nikola Dimitrov jeweils einer Symbolik einer Wasserschlagfigur und somit einer Todsünde zu. Das visionäre Konzept, das sich erneut mit diesem Thema beschäftigen wird, bindet die tradierten Überlieferungen nicht mehr ein, sondern stellt sich die Aufgabe, die Entwicklung zu einem neuen Wertesystem zu visualisieren.

www.nikoladimitrov.de