Konzert für Schafe und die Vielfalt der Arten

Galleriebild #1
Hinter den alten Kirchenmauern ziehen Töne wie gespiegelte Himmelsleitern   tief hinab in die Zeit bis an die Pforte hinter der die Mönche im Angstschweiß vor Pest und Kriegen von der Verheißung des Hirten ins Licht erzählten und im weiten Land die Schafe hüteten   Unweit vor dem Ende der neuen Zeit erwacht wie aus dem Schlaf ein Bruder der Pest in ungemalten Bildern ganz so als sei es reif den Auftritt des Menschen von den Stätten seiner flüchtigen, gierigen Existenz zu fegen   Im Kreislauf der Wesen heilt die Zeit keine Verluste und Wunden nur der versunkene Klang der Gaia und die schönen Seelen   Über kalkigen Steinmeeren in denen goldgelb die Frucht den Sommer wiegt loten jetzt Klangfänger in der stillen Obhut einer weidenden Schafherde wie Hirten auf der Suche nach einem verlorenen Klang der das Verbliebene einspannt in das zerrissene Netz der Wesen und sie in der Partitur des Ganzen mit dem Faden des langen Nachhalls verwebt   Neuer Klang? Letzte Chance!

Wenn Jazzmusiker in den Resten einer alten Prioratskirche der Prämonstratenser und nahe einer Schafherde in der umliegenden Bliesgaulandschaft die menschliche Sprache zurücklassen, um improvisatorisch Klänge zu erzeugen, können neue Experimentierräume für Austausch zwischen Mensch, Lebensraum und allen nichtmenschlichen Lebewesen entstehen. Dieses KlangBild zitiert unwillkürlich den Mythos vom „Urklang der Erde“ und gleichfalls den elementaren Grundgedanken des UNESCO-Biosphärenreservates Bliesgau: Einen Lebensraum mit allen seinen Geschöpfen in einen synergetischen – das Ganze bewahrenden – Austausch zu bringen.

Das Konzert für Schafe der Trioformation Autochthon (Hartmut Oßwald – Saxophone, Bassklarinette, Stefan Scheib – Kontrabass, Wolfgang Schliemann – Schlagwerk) knüpft – in einer Zeit in der Livekonzerte vor Menschen aufgrund einer Pandemie ausgesetzt sind – an das Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum – die Biosphäre Erde – an: „Man and the Biosphere“ bringt es die UNESCO auf den Punkt.

Wie reagieren Schafe als Vertreter der nichtmenschlichen Lebewesen und die „Weltenseele“, die gerade in der allverbindenden Natur erspürbar ist, auf ungewohnte Klangwelten, wenn diese bewusst an sie gerichtet werden? Können auf diese Weise Resonanzen zwischen den [Lebens-]Welten entstehen?

Das künstlerische Experiment möchte sinnlich fühl- und hörbar machen, wie Resonanzen auf dem einzigartigen Planeten Erde durch die Wirkkraft künstlerischer Prozesse ausgelöst werden. Musik als Variante der künstlerischen Ausdrucksformen übersetzt bekanntermaßen vieles, was Menschen mittels der Sprache kaum vermitteln können. Die naturgegebenen Befähigungen zu ästhetischem Fühlen, Denken und Gestalten sind tief im menschlichen Organismus verankert, und diese Potentiale können bei Menschen geschult und verlebendigt werden. Auf der Suche nach Hoffnungsfeldern einer ökologisch und ethisch vertretbaren Daseinsform des Menschen experimen­tiert die ungewöhnliche Idee mit der Frage, inwieweit Klangwelten eine transformative Energie ­zwischen Lebewesen und Lebensraum auslösen können.

Prolog

KulturOrt Wintringer Kapelle

Als Refugium für einen Prolog zu dem „Konzert für Schafe“ hat das Trio den KulturOrt Wintringer Kapelle auf dem Wintringer Hof gewählt. Der Ort geht bis in römische Zeiten zurück und eröffnet bis heute, wie eine Pforte ins Licht, den Blick in eine weite Landschaft, die einst Meeresboden war und heute als UNESCO-Biosphären­reservat Bliesgau anerkannt ist.

Es war wohl kein Zufall, dass an diesem, auch aus geomantischer Sicht, besonderen Platz im Mittelalter ein Priorat des Prämonstratenser-Ordens entstand. Die historischen Quellen belegen bei den Mönchen Obst- und Weinanbau, einen besonderen Garten und eine Schafzucht. Naheliegend lässt sich hier das Verhältnis von Hirte und Schafherde und deren hohe Symbolkraft auf poetische Art und Weise thematisieren.

Welches Echo aus der Tiefe der Zeit lässt sich in den bis heute erhaltenen Resten der mittelalterlichen Prioratskirche durch Töne aus der Jetztzeit aktivieren? Im späten Mittelalter predigten hier Mönche mitunter auch von den Beziehungen zwischen Gott, den Menschen und den Wundern der Schöpfung. Die Bibel war reich an Fund­stellen: „… und Jesus sprach, ich bin der „Gute Hirte“, ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich (Johannesevangelium 10,3).“ In jenen Augenblicken, in denen die Mönche ihren menschlichen „Schäfchen“ den Segen mit Psalm (23) „Der Herr ist mein Hirte“ spendeten, war zuweilen das Blöken der zugehörigen Schafherde auf den umliegenden Weiden zu hören.

Die friedvoll ­weidende Schafherde mit dem guten Hirten gilt bis in die Gegenwart als Sinnbild für die dem Menschen anvertraute Kreatur. Der Hirte übernimmt in der vorbeiziehenden Landschaft sowohl Verantwortung für das Wohlergehen seiner Tiere als auch für die Artenvielfalt in der Natur. Er versteht sich als Verbreiter von Leben und Vielfalt und Gegenbild zum rastlosen Verbrauch überlebensnotwendiger Ressourcen.

Unterwegs im Bliesgau

Im Bliesgau gedeiht die Frucht überwiegend auf Kalkböden, die das Meer aus Vorzeiten hinterlassen hat. Zur Erntezeit im Hochsommer ist das Trio mit einer Schafherde der Bliesgau-Bio-Schäferei Ernst in der Landschaft um Seelbach unterwegs, um mit ihren ­Instrumenten auszuloten, ob die Verständigungsebene der Musik nur zur Natur des Menschen gehört oder ob nicht auch Tiere auf und mit Klangwelten reagieren. Unterwegs lassen die Musiker ihre Klänge mit den Schafen und allen anderen Lebewesen der Landschaft zusammenfließen.

Das Konzert für Schafe spielt musikalisch auf Parallelen zu den höchst unterschiedlichen Verständigungsebenen von Lebewesen an. Tiere, so weiß man, kommunizieren mit dem Menschen durch Körpersprache, Mimik und Gestik, Blickkontakt, Stimme und Stimmung sowie Körpergeruch. Bei der Erzeugung von Lauten bzw. Klängen und im Hörvermögen gibt es offenbar Schnittstellen, die im weitesten Sinne eine Kommunikation – zumindest mit Tieren – zulassen.

Diese Erkenntnis eröffnet die Frage nach dem Spektrum der Wahrnehmungs- bzw. Verständigungsmöglichkeiten mit unseren sensiblen Mitgeschöpfen in der Pflanzenwelt. Im Kollektiv bilden jedenfalls alle Lebewesen – die menschlichen und nichtmenschlichen – gemeinsam einen Lebensraum. Alle zusammen gestalten durch ihren Beitrag das große Ganze zu einem Wunderwerk, das ohne Wechselwirkung und ein Miteinander in freundschaftlicher Verständigung und Beziehung nicht über­lebensfähig ist.

Wechselspiel

Die Signale und Botenstoffe, die dieses Beziehungsgeflecht als großes Ganzes – Biosphäre Erde – in einem ökologischen Gleichgewicht halten oder kippen, werden im Zeitalter des Anthropozäns jedoch fast ausschließlich aus der Menschheit versendet. Das Bedrohliche daran ist, dass im Klanggewirr der irdischen Lebewesen keine ausgleichenden Ebenen, Symbiosen und Beziehungen gefunden werden. Der Mensch scheint zu ignorieren, dass nichtmenschliche Lebewesen wie Tiere und Pflanzen sensibel auf Ausgleich reagieren. Doch diese Lebewesen verfügen nachweislich über ein Gedächtnis und sind lernfähig. Stirbt eine ihrer Arten aus, wird die Vielfalt des gesamten Systems bedroht. Die Wunden sind schmerzlich und kaum mehr heilbar.

Der Ruf nach Ausgleich hallt hörbar über den Erdenkreis und postuliert im übertragenen Sinne möglicherweise auch die eigentliche Botschaft unkontrollierbarer Seuchen: Hier ist endlich Ende mit der Gier und absoluter (Neu-)Anfang.

Ein Neuanfang erscheint jedoch ohne die Erkenntnis, dass sowohl Tiere und Pflanzen ein Bewusstsein haben und eine dem Menschen entsprechend hohe Wertschätzung bedürfen, kaum denkbar. Um ein ethisch und ökologisch tragfähiges Miteinander zu gewährleisten, wird die Menschheit wohl nicht an einem „Reset“ vorbeikommen, denn der Mensch, der sich als Krone der Schöpfung begreift und sinnentleert konsumiert, ist ein Auslaufmodell.

Vor diesem Hintergrund betritt das Konzert für Schafe bewusst einen Experimentierraum. In erster Linie um Klänge/Signale zu senden und falls möglich zu empfangen. Als „Klangsender und -empfänger“ treten die drei Musiker an, um das Beziehungsgeflecht Mensch und Natur im Dialog mit einer Schafherde auszuloten. Das Konzertieren erfolgt zu unterschiedlichen Tageszeiten. Die Tiere sollen in ihrem Rhythmus eines Tagewerkes die Klänge hören können. Die Musiker reagieren bewusst auf ihre ureigenen Gewohnheiten: Ziehen, Fressen, Ruhen, Wiederkäuen. Ziel dieser ungewöhnlichen Interaktion ist der künstlerische Verweis auf die Bedeutung von Rhythmus und Zeit und die gegenseitige Abhängigkeit aller ­Lebensformen. Menschen, Tiere und Pflanzen sind trotz ihrer individuellen Lebensräume verknüpft in einem komplexen Wechselspiel.

Belebte Natur

Die Klangwelten und Momentaufnahmen der Musiker am KulturOrt Wintringer Kapelle (Prolog) und inmitten einer weidenden Schafherde in der sommerlichen Landschaft des Bliesgaus erzeugen ein Klangbild, das auf eine empfängliche, nichtmenschliche Umwelt ausgerichtet ist, um die Verflechtung der Organismen auf künstlerische Art und Weise hervorzuheben.

Empathisches Menschsein [Conditio humana] als wesentliche Bedingung zur Kunst des Lebens wird so metaphorisch in Klang gesetzt: In Beziehung [klingen] sein.

Es geht um das Verhältnis von Mensch und Natur bzw. Lebensraum als ein Interaktionsgefüge, das ohne eine intensive Naturerfahrung und kulturelle Bildung nicht nachhaltig funktionieren kann: Allverbundenheit. Ein Gefühl von empathischer Beziehung und Resonanz mit den Wundern und Schätzen, die dieser Planet Erde – die Biosphäre – bereitstellt. Diese Art von Zusammengehörigkeit wird insbesondere dann intensiv erfahrbar, wenn unterschiedlichste Atmosphären durch künstlerische Einwirkung zusammengeführt und verdichtet werden.

Der Film

„Konzert für Schafe [... und die Vielfalt der Arten]“ wurde als Filmsequenz von der Trioformation Autochthon aufgezeichnet und bearbeitet.

Das Filmprojekt „Konzert für Schafe [... und die Vielfalt der Arten]“ versteht sich als Experiment zur Verbreitung nachhaltiger Lebensformen im Biosphären­reservat Bliesgau und als Beitrag zur kulturellen Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Exkurs

Biosphärenreservat Bliesgau

Der Begriff Biosphäre (griechisch, βίος bíos ‚Leben‘ und σφαίρα sphaira ‚Kugel‘) bezeichnet den Raum mit Leben eines Himmels­körpers (Quelle: wikipedia.org). Diese „Lebenskugel“ Erde ist ein ­einzigartiger Raum mit unterschiedlichsten Lebensräumen, Kulturen und Völkern der Menschheit sowie nichtmenschlichen Arten, die in einem vielfach synergetischen Zusammenhang stehen. BIOSPHÄREN (Lebensräume) RESERVAT (bewahren) bedeutet, die Fülle und ­lebensspendenden Qualitäten auf unserer Erde – der Schöpfung – in der Gegenwart und für künftige Generationen zu schützen und zu ­bewahren sowie die dafür notwendige ethische Grundlage innerhalb der Kulturen und Völker dieses Planeten durch Bildung für kulturelle und nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten.

1970 rief die UNESCO („United Nations Educational, Scientific and ­Cultural Organization“, „Organisation der Vereinten Nationen für ­Bildung, Wissenschaft und Kultur“) die Biosphärenreservate ins Leben. Sie sind ein wesentlicher Teil des Programms „Der Mensch und die Biosphäre“ mit dem Ziel, durch beispielhafte Maßnahmen ein ­ver­trägliches und dauerhaftes Miteinander von Mensch und Natur zu ­entwickeln und zu erproben. Bis Juni 2019 sind auf unserer Erde 701 Biosphärenreservate in 124 Ländern entstanden.

www.biosphaere-bliesgau.eu

Ökozid – Notstand der Natur

Im Artenschutzbericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) der UN aus dem Jahr 2019 zeichnet sich Dramatisches ab: Rund eine Million Arten könnten innerhalb der nächsten Jahrzehnte verschwinden, wenn sich der Zustand unserer Ökosysteme weiterhin verschlechtert. Die Integrität von 75 Prozent der Landflächen und 66 Prozent der Meeresflächen ist durch menschlichen Einfluss schwer beeinträchtigt. Dadurch wird weltweit ein Viertel der erfassten Tier und Pflanzenarten in ihrer Existenz gefährdet. Letztlich lässt sich diese Entwicklung nur in einem Perspektivenwechsel innerhalb der Gesellschaft aufhalten. Darüber hinaus ist eine Transformation des Naturschutzgedankens auf eine Ebene, die von Menschen auf breiter Ebene aus dem Herzen heraus getragen wird, erforderlich. Der ­Erhalt der biologischen Vielfalt dient immer auch dem Erhalt der menschlichen Lebensgrundlagen – sowohl global als auch lokal.

Der Schutz der Natur und ihrer vielfältigen Arten gelingt zumeist dann, wenn Menschen in der eigenen Heimat begreifen, was für Sie und die Generationen die uns folgen auf dem Spiel steht. Denn ihr Überleben und Wohl hängt direkt vom Erhalt ihrer Heimat und der natürlichen Ressourcen ab.

Mit der neuen 10-Jahresstrategie der UN-Biodiversitätskonvention, die auf der 15. Vertragsstaatenkonferenz (CoP15) im Oktober 2020 in China verhandelt wurde, steht eine große Weichenstellung an, die bis 2030 alle Länder in Richtung eines Lebens „in Harmonie mit der Natur“ bringen soll. Der WWF fordert, dass sich die Staats- und Regierungschefs zu konkreten Maßnahmen verpflichten werden, um wirksam mehr für den Schutz der Artenvielfalt zu tun, indem sie unter anderem bessere und wirkungsvollere Gesetze schaffen, die nachhaltige Produktion von Lebensmitteln fördern, naturschädliche Subventionen abbauen und die Finanzierung von Schutzgebieten steigern.

Quelle: www.wwf.de

Idee und musikalische Umsetzung: Trioformation Autochthon (Hartmut Oßwald, Stefan Scheib, Wolfgang Schliemann)
Filmische Bearbeitung: Katharina Bihler, Stefan Scheib und Hartmut Oßwald
Text, Fotografien: Peter Michael Lupp

Der Kunstschäfer Rudolf Schwarz hat das Projekt mit seinem Fachwissen als Schäfer und Hirte inspiriert und konnte die Bliesgau-Bio-Schäferei Ernst in Assweiler/Seelbach mit ihrer Schafherde als Beteiligte gewinnen.

Broschüre „Konzert für Schafe und die Vielfalt der Arten
Druckversion: peter.lupp@rvsbr.de