Körper und Raum
Die Wintringer Kapelle – ein plastisches Triptychon von Anne Haring
2008
Gehe ich als Besucherin in die Wintringer Kapelle, so betrete ich einen der Liturgie entleerten Kirchenraum. Als Baukörper, in schönen Proportionen, ist er ein Fragment des älteren und größeren Kirchengebäudes in Wintringen. Der Innenraum der Kapelle wurde zurückrestauriert auf das nackte Mauerwerk, in die großen Bogenöffnungen der Vierung und die Kirchenfenster farbloses Glas eingesetzt.
Mit dieser zurückgenommenen Farbigkeit im Innenraum, der Eigenfarbe der Kalk- und Sandsteine und der klaren Verglasung wird die Wandung der Kapelle zu einer zierlichen Ummantelung zwischen dem Innen und dem Außen.
Das Betreten der Wintringer Kapelle ereignet sich schon viel früher: Die Kapelle zwischen den Gebäudeteilen des heutigen Wintringer Hofs und den Rudimenten alten Mauerwerks lässt den Besucher schon im Außenraum zu einem eintretenden werden. Ein Wechselspiel von Innen und Außen.
Diese eindringlichen Raumwirkungen haben mich als Bildhauerin inspiriert, eine Arbeit über die Wintringer Kapelle zu entwickeln. Seit April 2008 arbeite ich an dem Konzept Körper und Raum und seiner Realisierung als Triptychon. Im ersten Schritt mit Kleinplastiken, im folgenden mit raumgroßen plastischen Arbeiten.
Mein Konzept Körper und Raum beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: Die Anwesenheit und zugleich auch die Abwesenheit. Zum einen weisen die Triptychonteile diese Aspekte selber auf, zum anderen deuten sie auf die Tatsache hin, dass die Wintringer Kapelle, die Schlosskirche in Saarbrücken (Wintringer Madonna und Corpus Christi, Alte Sammlung) und mein Atelier räumlich getrennt sind. Es ist auch Teil des Konzepts Körper und Raum, dass meine plastischen Arbeiten nicht vor Ort in der Wintringer Kapelle gezeigt werden, das heißt Sie, als interessierter Internet-Nutzer, werden nicht auf eine Ausstellung in der Wintringer Kapelle vorbereitet. Gehen Sie in die Schlosskirche, gehen Sie in die Wintringer Kapelle und begleiten Sie den Arbeitsprozess in extra muros bis August 2009.
In extra muros wurde im Zeitraum vom 8. September 2008 bis zum 15. August 2009 der Arbeitsprozess an dem Triptychon mit Fotos aus meinem Atelier im Internet gezeigt.
Der Mantel der Wintringer Madonna
Die Wintringer Madonna hat einen außen vergoldeten und innen blauen Mantel über einem roten Gewand. Die räumliche Präsenz der Holzskulptur liegt in ihrer dargestellten stofflichen Umhüllung von Mantel und Gewand. Ihre Leibhaftigkeit besteht in einer Ahnung ihrer weiblichen Figur, die in konvexen Formen das Gewand wölben. Die Vielfarbigkeit ihres Mantels und Gewandes läßt jedoch den Körper als plastisches Volumen vergessen. Der Mantel ist eins mit ihrem Körper, der Mantel ist ihre Hülle, ihr eigener Körper unnahbar.
Die Zweifarbigkeit des Mantels der Wintringer Madonna thematisiert einen Farbkontrast, der eine sich unterstützende und belebende Farbwirkung hat – Gold/Ocker und Blau. In seinen Tonwertmöglichkeiten reicht er von tonwertgleichem bis zu einem starken Hell-dunkel-Kontrast.
Für mein räumliches Empfinden ist es entscheidend, dass die Farbigkeit einer Plastik nicht über das eigentliche materielle Volumen hinweg in den Raum greift, sondern eine Einheit von Körper und seiner (Ober)flächenwirkung erzeugt. Dies erreiche ich durch einen matten, nicht glänzenden Farbauftrag mit Gouache und Tempera sowie einer Lasurtechnik, die den eigentlichen monochromen Farbigkeiten – Gold/Ocker und Blau – Tiefe und Atmung ermöglicht.
Die genaue Wiedergabe dieser Farbigkeiten ist über Fotografie und Bildschirm nur bedingt möglich.
Der Arbeitsprozess an der plastischen Form ist weitgehend beendet. Die Farbwirkung ist eine neue Entwicklung der plastischen Form und ist nur unter Tageslichtverhältnissen gut zu beurteilen. Die noch anstehenden Farbänderungen, in feinen Nuancen, werde ich hier im Internet nicht dokumentieren. Wie schon erwähnt sind Fotografie und Bildschirm in Bezug auf Farbwiedergabe nicht zuverlässig.
Das gefundene Fragment Corpus Christi
Das Fragment einer gefundenen figürlichen Plastik, ein Corpus Christi, zeigt Bauch, Hüfte und Oberschenkel. Eine Beugung ist deutlich gestaltet; die Spannung eines aufrecht stehenden Körpers fehlt. Durch den nach vorne geneigten Oberkörper wäre der Schwerpunkt der Figur nicht durch die Grundfläche, die die Beinachsen beschreiben, abgefangen. Da dem Fragment Arme und oberer Rumpf fehlen, bleibt die Frage, ob dieses unstatische Moment der Figur mit den Armen ausbalanciert worden war. Der Corpus Christi, sein Körper, verweist auf die Existenz eines größeren statischen Zusammenhangs.
Der Baukörper Wintringer Kapelle
Im geschichtlichen Prozess seiner verschiedenen Baukörpergestalten entwickelte sich das Kirchengebäude um ein Zentrum, die ehemalige Vierung. Sie war und ist eine über die gesamte Gebäudeentwicklung hinweg kontinuierlich überbaute Grundfläche. Wie aus einer Mitte vergrößerte und verkleinerte sich daraus das Kirchengebäude. Eine geschlossene Wandummantelung bildet heute das Bauvolumen der Wintringer Kapelle, Wandreste bilden Raumgrenzen auf dem historischen Grundriss – anwesende und abwesende Bauvolumina.
Zum besseren räumlichen Verständnis der Fotografien gebe ich die Himmelsrichtungen entsprechend dem historischen und gegenwärtigen Grundriss an.
Epilog
Sie haben in extra muros den Prozess einer plastischen Arbeit mitverfolgen können, der normalerweise nicht zu sehen ist, denn in der Regel werden nur die Resultate künstlerischer Arbeiten in Räumen wie Galerien und Museen ausgestellt. Da ich der Fotodokumentation in extra muros nur wenige erläuternde Worte zu den Bildfolgen gestellt habe, ergaben sich für Sie vielleicht mehr Fragen als gewünschte Antworten. Es war und ist natürlich mein Konzept, Sie nicht mit zu vielen Erklärungen lenkend auf ein fertiges Ergebnis einzustimmen.
Körper und Raum sind zwei reale, faktische Ereignisse der Dreidimensionalität. Für mich besteht eine unmittelbare Bedingtheit beider, die mich als Bildhauerin sehr antreibt: Der Raum ist dadurch Raum, da in ihm Platz ist für einen abgeschlossenen Körper und das Betrachten eines Körpers einen Raum impliziert. Das heißt, das Existieren eines Raumes wird allein schon durch das Betreten, durch meinen Körper bewiesen. Dies steht im Gegensatz zu einer unendlichen räumlichen Weite und einer unendlichen materiellen Oberfläche, die zusammen keine Relation ausdrücken können, der wir als Erlebende begegnen könnten.
Aus dieser Grundfaszination von Körper und Raum entwickelte ich in der Begegnung mit der Wintringer Kapelle das Konzept Ein plastisches Triptychon, um auf diese Bezüglichkeit in einer zusammenhängenden Arbeit mit den Fragen eingehen zu können:
In welcher tektonischen Position und Verformung beschreibt eine plastische Oberfläche die Anwesenheit eines – nicht nackten – Körpers?
Begreife ich das statische Element meines Körpers in Gegenwart der Kreuzigungsdarstellung?
Nehmen wir beim Betreten und Durchlaufen von Räumen nur ihre Funktionalität, ihren Zweck wahr?
Nehmen wir die Farbigkeit der Materialien in räumlichen Ereignissen und plastischen Volumen überhaupt als der Form immanent wahr?
Die Arbeit mit dem Ort Wintringer Kapelle hat für mich in sehr intensiver Form alle vier, scheinbar voneinander unabhängigen Fragen zu einem Komplex über Körper und Raum zusammengeführt.